Schweren Herzens hat Alexander Wiesenegg sein Gasthaus geschlossen. In den Bürgerspital-Weinstuben, einem Würzburger Traditionshaus, bleibt bis mindestens Mitte April wegen Corona das Licht aus. Das gab es nicht einmal im Zweiten Weltkrieg.
Doch der 40-jährige Gastwirt hat keine Wahl. Vor zwei Wochen verkündete Bayerns Ministerpräsident Markus Söder drastische Maßnahmen im Kampf gegen das Coronavirus: Das öffentliche Leben in Bayern wurde ins Koma versetzt. Geschäfte, Restaurants und Hotels mussten auf Anweisung der Staatsregierung schließen. Es ist eine Katastrophe für die gesamte Wirtschaft. Doch Wiesenegg hatte vorgesorgt – zumindest glaubte er das.
Von Salmonellen zur Pandemie
Der Gastronom hat eine All-Risk-Versicherung abgeschlossen, die eigentlich alle Gefahren abdecken soll. Darin enthalten ist unter anderem eine sogenannte Betriebsschließungsversicherung. Damit können sich Metzgereien, Restaurants, Supermärkte und Arztpraxen absichern, wenn eine Behörde den Betrieb auf Grundlage des Infektionsschutzgesetzes schließt.
Das klassische Beispiel ist eine Eisdiele, in der Salmonellen nachgewiesen werden. Ordnet das Gesundheitsamt deshalb an, den Verkauf einzustellen, würde die Versicherung für mögliche Verluste aufkommen.
Doch momentan geht es nicht um Salmonellen, sondern um eine internationale Pandemie – ausgelöst durch das SARS-CoV-2-Virus. Statt eine einzelne Eisdiele hat die bayerische Staatsregierung auf Grundlage des Infektionsschutzgesetzes ganze Branchen stillgelegt. Ein klarer Fall für seine Versicherung, dachte Wiesenegg. Doch die will nicht zahlen.
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Bürgerspital ist kein Einzelfall
Es zeigt sich, dass das Bürgerspital kein Einzelfall ist. Vielen seiner Kollegen gehe es genauso, sagt Wiesenegg. "Da liegen die Nerven mittlerweile blank." Er schätzt, dass in Würzburg etwa 40 Prozent der bekannteren Gastronomen eine solche Betriebsschließungsversicherung abgeschlossen haben. Andere hätten sich aufgrund der teuren Jahresprämien, die bei ihm für die gesamte Versicherung im hohen vierstelligen Bereich liege, bewusst dagegen entschieden.
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Wie diese Redaktion aus mehreren Quellen erfahren hat, verweigerte zunächst die Mehrheit der Versicherungen die Zahlung, darunter große Anbieter wie Ergo, Allianz, Nürnberger Versicherung und Helvetia. Bessere Aussichten haben dagegen Kunden der HDI und der Signal-Iduna-Gruppe, die grundsätzlich Schließungen aufgrund des Coronavirus akzeptieren.
Versicherer ducken sich weg
Die Ablehnung folgt nach Angaben von beteiligten Juristen fast immer der gleichen Argumentation: In den jeweiligen Versicherungsbedingungen seien alle versicherten Krankheiten und Krankheitserreger wie beispielsweise Masern, Mumps, Tollwut oder die Pest einzeln und angeblich abschließend aufgeführt. Diese Liste orientiert sich meist an der Aufzählung im Infektionsschutzgesetz.
Das Problem: Viele Verträge sind schon einige Jahre alt. Damals kannte das neuartige Coronavirus noch niemand, weswegen es in keiner Vertragsklausel genannt wird. Erst im Februar dieses Jahres wurde der Erreger ins Gesetz aufgenommen.
Auf die Frage dieser Redaktion, ob sie trotzdem zahlen, hüllen sich fast alle Versicherungskonzerne in Schweigen. In schriftlichen Statements heißt es fast unisono: Pauschale Aussagen seien nicht möglich. Jeder Vertrag sei anders gestaltet und müsse individuell geprüft werden. Detaillierte Fragen der Redaktion werden nicht beantwortet.
Alexander Wiesenegg meldete seiner Versicherung den Schaden und erhielt innerhalb weniger Tage die Ablehnung. In knappen Sätzen wurde ihm mitgeteilt, dass das Coronavirus nicht versichert sei. "Da kam ich mir echt verarscht vor", erzählt er rückblickend. Der Gastronom fühlt sich im Stich gelassen. Dieser Redaktion teilte Wieseneggs Versicherung mit: "Wir möchten keine Stellungnahme abgeben."
"Es scheint, als setzen einige Versicherer auf die Strategie der Austrocknung", kritisiert sein Anwalt Jörg Hofmann von der Würzburger Kanzlei Bendel und Partner. Einige Juristen vermuten, die Versicherungen würden die Anträge bewusst erstmal ablehnen – in der Hoffnung, dass sich nur wenige Unternehmer wehren. Gerade in der aktuellen Krisensituation kann sich nicht jeder einen jahrelangen Prozess leisten. Und bei hartnäckigen Kandidaten könnten die Versicherungen immer noch einen außergerichtlichen Vergleich aushandeln.
"Ich vermute, das ist eine stille Kalkulation", sagt Hofmann, dessen Kanzlei über 20 betroffene Unternehmen vertritt, vom Gasthaus bis zur Systemgastronomie. Die Betriebe bräuchten jetzt das Geld, um ihre Rechnungen zu bezahlen. Je länger sich die Verhandlungen mit den Versicherungen hinziehen, desto größer wird die Gefahr einer Insolvenz.
Niemand hat mit einer Pandemie gerechnet
Laut dem Gesamtverband der Versicherungswirtschaft (GDV) ist nicht bekannt, wie viele solcher Verträge bundesweit abgeschlossen wurden. Die Nachfrage nach Betriebsschließungsversicherungen war aber wohl in den vergangenen Jahren eher verhalten.
Viele der Verträge folgen dem gleichen Muster, werden aber durch individuelle Regelungen ergänzt. Der eine Gastronom bekommt 1000 Euro für jeden geschlossenen Tag, sein Kollege vielleicht 25 000 Euro – je nach Größe und Umsatz des Betriebs. Auch die Dauer der Zahlung reicht von in der Regel 30 Tagen bis zu 12 Monaten.
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Im Bürgerspital geht die Angst um
Alexander Wiesenegg sitzt im Gastraum des Bürgerspitals. Wo sonst mehrere hundert Gäste pro Tag bewirtet werden, herrscht nun gespenstische Stille. Kein Gläserklirren. Keine eifrigen Bedienungen, die dampfende Teller an die Tische bringen. Die Gedanken des Küchenchefs kreisen momentan nicht nur um die Zukunft seines Betriebs.
Er denkt auch an seine 60 Mitarbeiter und deren Familien. Bei manchen falle ein wesentlicher Teil des Einkommens weg. Sie alle bangten, wie es in den kommenden Wochen weitergeht. "Die haben Angst", erzählt Wiesenegg, denn auch seine Rücklagen sind irgendwann aufgebraucht. Das Geld der Versicherung würde ihm da erstmal Luft verschaffen.
Krisengespräche laufen auf höchster Ebene
Auch der Bayerische Hotel- und Gaststättenverband ist verärgert. "Selbstverständlich geht es bei den Versicherungen um enorm viel Geld", heißt es in einem Schreiben an Ministerpräsident Markus Söder. "Aber in diesem Katastrophenfall darf es keine unsolidarischen Geschäftsgebaren geben."
Nach Informationen dieser Redaktion laufen bereits auf höchster Ebene Gespräche zwischen der bayerischen Staatsregierung, Vertretern des Gastgewerbes und der Versicherungswirtschaft. Offenbar, so hört man es aus Versicherungskreisen, wird über einen Solidaritätsfonds nachgedacht, in den alle Konzerne entsprechend ihres Marktanteils einzahlen. Vorbild könnte Frankreich sein, wo Versicherer insgesamt 200 Millionen Euro locker gemacht haben, um Betrieben auch bei zweifelhaften Verträgen unkompliziert helfen zu können.
Man suche nach Lösungen, um den Betrieben schnell Gelder bereitstellen zu können, teilt der GDV mit. Doch einen Fonds sieht der Verband kritisch. Dies schaffe zusätzliche Bürokratie und verlangsame den Prozess. Die Verhandlungen sind derart heikel, dass sich zunächst niemand zu Details äußern wollte.
Dass das Vorgehen der Versicherungen System hat, bestätigt Sven-Wulf Schöller. Er ist Fachanwalt und Mitglied der Arbeitsgruppe Versicherungsrecht des Deutschen Anwaltvereins. Den Versicherungskonzernen, die von der Coronakrise genauso unerwartet getroffen wurden wie viele andere Branchen, gehe es aktuell darum, Kosten zu senken. Natürlich könne man nun Ethik und Moral in Frage stellen, sagt Schöller. Doch letztlich müssten auch Versicherungen mit dem Geld ihrer Kunden sparsam umgehen.
Wie die Süddeutsche Zeitung berichtet, soll sich der mögliche Schaden bei Axa auf 150 Millionen bis 200 Millionen Euro belaufen. Dreistellig dürfte es demnach auch bei der Allianz werden. Entsprechende Anfragen dieser Redaktion blieben bis Redaktionsschluss unbeantwortet. Inoffiziell wird die Corona-Pandemie aber als Sturm bezeichnet, der auch die Versicherungswirtschaft mit voller Breitseite erwischt hat. Bei der Risikoanalyse von Betriebsschließungsversicherungen sei eine Pandemie nicht einkalkuliert gewesen.
Diskussion unter Juristen
Das Argument, das Coronavirus stünde nicht in den Verträgen, überzeugt Schöller und viele seiner Kollegen nicht. Er verweist auf mehrere Urteile des Bundesgerichtshofs (BHG), wonach Versicherungsbedingungen so auszulegen sind, wie ein durchschnittlicher Kunde sie versteht. Ein Gastronom überprüfe eben nicht jeden einzelnen Krankheitserreger.
Laut BGH muss deshalb nicht nur der Wortlaut, sondern müssen auch Sinn und Zweck solcher Klauseln berücksichtigt werden. Gleichzeitig verpflichtet das Versicherungsvertragsgesetz die Konzerne, stets "ehrlich, redlich und professionell" im Interesse ihrer Kunden zu agieren.
Absurd ist laut Schöller das Argument mancher Versicherungen, dass betroffene Unternehmer nur einen Anspruch haben, wenn die Behörde ihnen einen individuellen Schließungsbescheid ausstellt. Den hat natürlich niemand, weil die Staatsregierung eine generelle Verfügung erlassen hat, die für alle gilt. Das sei aber genauso ein behördlicher Akt, betont Schöller. Und so würde das auch jeder Gastronom oder Einzelhändler verstehen.
Im Ergebnis gehen Experten davon aus, dass am Ende Gerichte entscheiden, ob die Gastronomen, Hoteliers und Einzelhändler Geld bekommen werden. Doch dann könnte es für einige schon zu spät sein.
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