Eine ganze Wand übersät mit Uniform-Abzeichen ukrainischer Brigaden, von anderen Mauern blicken ukrainische Kämpfer von gerahmten Fotos. Patronenhülsen liegen unter gläsernen Tischplatten. Die Pizzeria „Veterano“ erzählt mit kernigen Utensilien vom Krieg im Donbass, schon lange, bevor er sich auf die ganze Ukraine ausweitete. Das Restaurant ist bekannt. 2016 gründeten ehemalige Frontkämpfer die Pizzeria, in der sie selbst in der Küche stehen. Der Krieg ging da schon in das dritte Jahr. 2,5 Millionen Menschen waren vor dem 24. Februar 2022 Vertriebene, über 14.000 Tote gab es zu beklagen. Doch der vor sich hinköchelnde Stellungskrieg mitten in Europa wurde verdrängt. So wie die Tatsache, dass die Krim völkerrechtswidrig annektiert wurde. Deswegen bedeutet 2023, dass es nunmehr ein neuntes Kriegsjahr gibt.
Ich treffe Sabyrzhan Mitte November während seines Fronturlaubs in Kiew. Im „Veterano“ sei er noch nie gewesen, aber er habe davon gehört. Die Pizza soll nicht übel sein. Also ist unser Treffpunkt das Lokal nahe dem Maidan, einer der Lebensadern der Hauptstadt. Dort, wo 2013 die „Revolution der Würde“ begann, wo Scharfschützen und Spezialkräfte 100 Demonstranten töteten. Dann floh der pro-russische Präsident Wiktor Janukowytsch vor den Unruhen und wurde seines Amts enthoben. All das ist die Vorgeschichte zu dem brutalen Angriffskrieg, mit dem Russland die Ukraine seit dem 24. Februar 2022 überzieht.
Es ist die Geschichte von Menschen, die nicht mehr willens sind, sich von Russland bevormunden zu lassen. Die ihre Zukunft in einem vereinten demokratischen Europa sehen, nicht in einem autoritären System. Menschen wie Sabyrzhan, der dafür sein Leben aufs Spiel setzt.
Auch Ausländer kämpfen in der Ukraine gegen die Russen
Im Sommer 2022 begleite ich den 23-Jährigen mit meiner Kamera zwei Tage lang bei einem Kampfeinsatz. Er dient in der Internationalen Legion. Sabyrzhan ist Kasache, wuchs in der Ukraine auf. Viele der Legionäre, die ich treffe, kommen aus Staaten der ehemaligen Sowjetunion. Da ist der Zahnarzt, der die Unfreiheit seiner Heimat Belarus nicht mehr ertrug. Er siedelte vor Jahren in die Ukraine über, eröffnete eine Praxis und nun kämpft er: „Weil die Ukraine kein Belarus werden darf.“ Der Georgier, dem es reicht, dass „die Russen schon gut ein Viertel meines Heimatlandes besetzen“. Ein Pole ist dabei, der sein Heimatland auf der Invasionsliste Putins sieht. Aber auch Kolumbianer, Portugiesen und Amerikaner sehe ich.
Im Oblast Saporischschja galt es, ein Dorf zurückzuerobern. So lautet der Auftrag an jenen Sommertagen. Vor dem Einsatz begrüßt mich George, der Stellvertreter des Kommandanten. In einer leeren Halle warten die Soldaten auf ihren Einsatz. In nicht allzu weiter Ferne donnert die Artillerie. George ist ein junger Offizier mit Spitzbart und bestem Englisch. Gerade 26 Jahre alt, befehligt er Männer, die teilweise seine Väter sein könnten. Die Truppe wird aufgeteilt und George stürmt mit seiner Gruppe auf das Dorf. Sabyrzhan bedient auf einem bewaldeten Hügel das Funkgerät.
Eine Kerze für die Gefallenen
Nach einer gewissen Zeit schlagen auch in unserem Umfeld Granaten ein. Wenn es zu „wild“ wird, suchen mein Kollege Oles und ich Schutz in einem Splittergraben. Auf meinem Smartphone habe ich noch einen Video-Clip: Man hört das Pfeifen einer Granate, dann den Einschlag. Alle Umstehenden ziehen den Kopf ein. Nur Sabyrzhan steht wie eine Eins. „Das war weit genug weg“, lacht er darüber Monate später bei unserem Treffen im „Veterano“. George bekomme ich am Ende des Einsatzes nicht mehr zu sehen. Er hat sich zwei Kugeln eingefangen. Einer der Belarussen ist gefallen. Zwei weitere Legionäre verwundet. Am Abend zündet Sabyrzhan eine Kerze für den Gefallenen an.
George besuchte ich mit meinem Kollegen auf dem Rückweg in Kyjiw im Hospital. Die Verletzungen waren damals zum Glück nicht so schwer. Zwei Streifschüsse und ein Schrapnell. George wäre vielleicht im „Veterano“ dabei gewesen, bei einem Bier und einer Pizza. Im Krankenhaus hatten wir uns das so vorgenommen: In Kyjiw mal etwas trinken zu gehen.
Doch bei dem Treffen mit Sabyrzhan gedenken wir Georges. Er ist wenige Tage zuvor gefallen. Für Sabyrzhan, das wird mir schnell klar, ist es der schwere Verlust eines guten Freundes. „George hatte schon seinen Ruf weg. Weil er so oft verwundet wurde. Er ging immer voraus. Sein Mut hat uns alle beeindruckt“, sagt der 23-Jährige, der eigentlich auf den OP-Tisch ins Krankenhaus gehört. Er trägt Splitter in seinem Körper. „Die Legion wollte mich ins Hospital schicken, aber wer bedient dann das Funkgerät? Ich spreche jetzt als einziger in unserer Einheit fließend Ukrainisch und Englisch. Das muss warten.“ Sabyrzhan erzählt noch einiges über George, einen 26-Jährigen, der das Leben liebte. Der genießen konnte. „Auf den immer Verlass war“, sagt Sabyrzhan zum Abschied.
Verluste der Russen gehen in die Hunderttausende
Ein Jahr wütet der Krieg nun in voller Härte in der Ukraine. Laut ukrainischen Angaben gehen die Verluste der russischen Truppen auf die 150.000 zu. Zehntausende dürften es auf ukrainischer Seite sein – Militärs und Zivilisten. Die Vereinten Nationen beziffern allein die Zahl der getöteten Zivilisten mit 7200, darunter 438 Kinder. Den Tod sehe ich immer öfter, er kommt bei meinen Reisen näher an mich heran. In Bachmut, als ich Mitte Januar in die Gesichter von Soldaten sehe, die nach einer Explosion in den Unterstand wanken, nach der mächtigen Druckwelle nach Luft ringen.
Sie haben gerade drei Kameraden bei dem Einschlag verloren. Dem Tod begegne ich an den frischen Gräbern auf Dorffriedhöfen, die auf meinem Weg liegen. In Mykolajiw sehe ich ihn in den versteinerten Gesichtern von Angehörigen, die nach einem Raketenangriff ungläubig beobachten, wie sich ein Bagger durch Schutt und Trümmer kämpft. Dort, wo Stunden zuvor noch Schlaf- und Wohnzimmer, Bäder und Küchen waren. Sieben Tote gab es bei dem Angriff, den ich mit meiner Kamera dokumentiere. Einer der unzähligen Einschläge, die Wohnblocks treffen. So viele, dass es für uns droht, zur Normalität zu werden.
Doch Krieg darf nie zur Normalität werden. Seit einem Jahr greift er jeder Ukrainerin und jedem Ukrainer tief ins Herz. Geflüchteten ebenso wie denen, die im Land geblieben sind. Im Hinterland erleben Familien eine im wahrsten Sinne des Wortes dunkle Zeit, weil die gezielten russischen Angriffe zu Stromrationierungen führen. Das bedeutet kalte Winternächte ohne Heizung und Licht.
Kinder wachsen inmitten von täglichen Alarmen auf. Sie fürchten um das Leben von Vätern und geliebten Menschen an der Front. Sie haben Angst, dass ihr Zuhause einen Treffer abbekommt. Sie bangen um Verwandte, die in den Kampfgebieten leben. Vielleicht mussten sie selber schon fliehen oder trauern um ihnen nahestehende Menschen.
Trotz Krieg kommen die Kinder in die Schule
Krieg ist das Gegenteil einer menschenwürdigen Normalität. Aber um ihn zu bestehen, muss man sich ein Stück Normalität darin erkämpfen. In Borodjanka treffe ich Oksana. Sie führt die städtische Musikschule, die es räumlich nicht mehr gibt. Die Ruine wurde mittlerweile abgetragen. In Borodjanka liegt so vieles in Trümmern. Wohnblocks und die Leben ihrer Bewohner.
Nach russischen Angriffen und kurzzeitiger russischer Besatzung ist die Kleinstadt in weiten Teilen zerstört. „Musik heilt die Seele“, sagt Oksana. Deswegen nutzen sie und ihr Team am Wochenende freie Klassenzimmer einer Schule, um dort Kinder und Jugendliche zu unterrichten.
Auf Facebook sehe ich manchmal Video-Ausschnitte aus Konzerten, die Oksana jetzt organisiert. Ganz zaghaft holen sich die Kinder, ihre Lehrerinnen und Lehrer ein Stück Normalität zurück. Es sind Augenblicke der Würde. Oksana träumt davon, die Musikschule wieder aufzubauen. Ein Architekt hat ihr kostenlos einen Bauplan erstellt. Jetzt hofft sie auf Spenden.
Ich treffe bei meinen Reisen durch die Ukraine so viele tapfere Menschen. Manche sind seit vielen Jahren gute Freunde, wie mein Kollege Oles, mit dem ich seit über fünf Jahren zusammenarbeite. Oder Sasha aus dem umkämpften Charkiw, den ich im April fotografiere, als er bei seinem ersten Fronturlaub wieder seine Julia in den Arm nimmt. Doch ich will den Krieg nicht durch einen romantischen Filter schön zeichnen. Krieg ist von Grund auf böse.
Die Ukrainer brauchen Waffen
Warum kämpfen die Menschen in der Ukraine? Warum nehmen sie die Bombardierungen, die Flucht, das Sterben in Kauf? Warum machen sie nicht das, was Alice Schwarzer und Sarah Wagenknecht ihnen letztendlich nahelegen: sich ergeben? Denn das ist die Folge, wenn die Ukrainer sich ohne Waffen nicht mehr verteidigen können.
Mitte November 2022 erlebe ich die Befreiung von Cherson, das bis dahin unter russischer Kontrolle stand. Die Menschen stehen am Straßenrand und weinen vor Freude. Es sind Momente, für die ich mein Leben lang dankbar sein werde. Für die Bewohner von Cherson endet eine monatelange Zeit der Rechtlosigkeit. Allein in der Stadt unterhielten die Besatzer vier Foltergefängnisse. Dort peinigten die Folterknechte ihre Gefangenen nicht selten bis zum Tod.
Bei meiner jüngsten Reise Anfang Februar treffe ich einen Folterüberlebenden, Sascha. Er wurde mit Elektroschocks gequält, dann schlugen sie ihm auf die Beine, bis die Haut abplatzte, immer weiter auf das Fleisch. Zwei Wochen lang, dann musste er im Krankenhaus notoperiert werden. Sascha kann nur noch unter Anstrengung laufen, er ist schwerst traumatisiert. Aber er hat überlebt. Er lebt.