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Würzburg
Ukraine-Geflüchtete in Würzburg: "Das bisherige Leben ist komplett zerstört"
Sie sind in Würzburg erst einmal in Sicherheit – und haben Angst um Verwandte und Freunde in der Ukraine: Drei Geflüchtete berichten über ihre Erlebnisse und Gedanken.
Sie haben in Würzburg Zuflucht gefunden: Nataliia Malatschkova (rechts) und ihre Tochter Katja.
Foto: Thomas Obermeier | Sie haben in Würzburg Zuflucht gefunden: Nataliia Malatschkova (rechts) und ihre Tochter Katja.
Sophia Scheder
 und  Torsten Schleicher
 |  aktualisiert: 15.07.2024 10:03 Uhr

Für Nataliia Malatschkova hatte es am 25. Februar zurück nach Hause gehen sollen, zurück nach Winnizija, eine Stadt in der Zentralukraine mit 367 000 Einwohnern, knapp vier Fahrstunden von der Hauptstadt Kiew entfernt. Die Augenärztin und Universitätsprofessorin ist gerade in Italien bei einem Lehrgang, als sie am frühen Morgen des 24. Februar erfährt, dass ihre Heimat von russischen Truppen angegriffen wird.

"Mein Mann rief mich an und sagte mir, was passiert ist" , berichtet Nataliia Malatschkova. Schnell steht fest: Es wird vorerst kein Zurück in die Heimat geben. Statt nach Winnizija fliegt die 45-Jährige nur mit ihrem Gepäck vom Lehrgang nach Deutschland. Noch am 24. Februar kommt sie in Würzburg an, wo ihre Mutter seit längerem lebt.

Bereits eine Woche zuvor war ihre Tochter Katja hier eingetroffen. "Meine Mutter hatte mir schon vor Beginn des Krieges gesagt: Es wird etwas passieren. Und sie hat mir gesagt: Fahre nach Deutschland", berichtetet die Soziologie-Studentin. "Am 24. Februar hat mich meine Mutter früh um fünf weinend angerufen und mir gesagt, dass Krieg ist."

Die Geflüchteten quält der Gedanke an das Kriegsgeschehen in der Heimat

Auch wenn Katja und ihre Mutter jetzt in Sicherheit sind: Sie beide quält der Gedanke an ihre Heimat. "Meine Freunde und Verwandten sind dort, ich habe große Angst, ich fühle mich so schlecht," sagt die 22-jährige Katja. "Ich kann meine Gefühle nicht beschreiben. Mein Leben, wie es bisher war, ist komplett zerstört."

In Winnizija ist es im Moment zwar noch relativ ruhig, allerdings ist der kleine Flughafen bereits Ziel russischer Angriffe geworden. "Wir rufen jeden Tag zu Hause an. Wir fragen unsere Freunde und Verwandten nicht mehr, ob sie gut geschlafen haben, sondern nur noch, ob sie irgendwo schlafen konnten. Die Sirenen in unserer Stadt gehen jeden Tag", sagt Katja Malatschkova. Manchmal bekommt sie Anrufe von ihrer Freundin: "Sie sitzt dann ein, zwei Stunden in einem Keller, sie weint." Die Freundin wohnt ganz in der Nähe des zerstörten Flughafens.

Nataliia Malatschkovas Mann ist in Winnizija geblieben, täglich telefoniert sie mit ihm. Serhii Malatschkov ist wie seine Frau Augenarzt. Die Stadt ist inzwischen zu einem Umschlagort für Flüchtlinge aus den stärker umkämpften Gebieten des Landes geworden. In Winnizija sammelt Serhii Malatschkov jetzt Spenden und organisiert als Freiwilliger Hilfsgüter fürs ukrainische Militär, von Schuhen über medizinisches Material bis hin zu Nachtsichtgeräten.

"Meine Freunde und Verwandten sind dort, ich habe große Angst, ich fühle mich so schlecht."
Katja Malatschkova, Geflüchtete aus der Ukraine

Damit steht er nicht allein, der Widerstand gegen die Aggression Russlands ist in der Ukraine nicht nur eine Sache des Militärs, sondern der gesamten Bevölkerung. "Die Leute versuchen, etwas selbst zu machen, etwas selbst zu organisieren", sagt Katja Malatschkova. Das gelte auch für die Hilfe der Menschen, die aus den umkämpften Städten fliehen und in Winnizija ankommen: "Alle Restaurants machen kostenlos Essen für die Leute, die aus Charkiw, Sumy oder Kiew kommen."

Der Krieg wirft nicht nur von einem auf den anderen Tag Familien durcheinander, zerstört Leben und Lebensentwürfe, er zieht auch einen tiefen Riss zwischen bisherige Freundschaften oder kollegiale Beziehungen. Nataliia Malatschkova hat nach Kriegsbeginn bei Fachkolleginnen und -kollegen in Russland angerufen, die sie aus ihrem Berufsleben kennt. Sie wollte mit ihnen über den Krieg sprechen – und erhielt teils verstörende Antworten. "Sie verstehen gar nicht, was bei uns passiert, sie glauben es uns einfach nicht", sagt sie. Die Propaganda aus dem Kreml zeigt offenbar Wirkung. Inzwischen hat sie aufgehört, mit den früheren Kollegen zu telefonieren.

Die Entfremdung zwischen Menschen aus der Ukraine und Russland habe allerdings schon früher eingesetzt. "Das fing mit der Besetzung der Krim und dem Geschehen im Donbas an,", sagt Nataliia Malatschkova, "damit ist alles kaputt gegangen und das wird es wohl für viele Generationen bleiben."

Olya Solodovnykova flüchtet gemeinsam mit ihrem Sohn

Bei "Reifen Quelle" in der Südlichen Hafenstraße in Würzburg stapeln sich Kartons. "Isomatten" steht in krakeliger Schrift auf vielen von ihnen geschrieben, "Tiernahrung" auf anderen. Mehrere Menschen packen an, füllen die Kisten, sortieren sie. Eine Helferin davon ist Olya Solodovnykova. Dick eingepackt mit Winterjacke, Mütze und Handschuhen schichtet sie einen Karton nach dem anderen.

Solodovnykova ist erst seit vier Tagen in Deutschland. Ihr altes Leben als Rechtsanwältin bei einer großen Firma für Wirtschaftsangelegenheiten musste sie zurücklassen. Gemeinsam mit ihrem 17-jährigen Sohn ist auch sie aus der Ukraine nach Deutschland geflohen.

Auch Olya Solodovnykova ist vor dem Krieg in der Ukraine geflohen.
Foto: Johannes Kiefer | Auch Olya Solodovnykova ist vor dem Krieg in der Ukraine geflohen.

"Als ich erfahren habe, dass hier eine Sammelstelle für Sachspenden ist, habe ich sofort geholfen", erzählt die 38-Jährige in einer Pause vom Kistenschleppen. Sie fühle sich machtlos, seitdem sie in Deutschland ist. Ihre Gedanken seien rund um die Uhr bei ihrer Familie und ihren Freunden in der Heimat. "Physisch bin ich in Sicherheit, doch mein Kopf ist noch drüben."

Miserable Zustände im Zug Richtung Westen

"Drüben" ist Bachmut, eine Stadt in der Region Donezk im Osten der Ukraine. Ende Februar wurde sie in einer großangelegten Aktion evakuiert, erzählt Solodovnykova. Tränen stehen ihr in den Augen, ihr fällt es sichtlich schwer, über ihre Erlebnisse zu sprechen. Trotzdem möchte sie sich äußern, ihr ist es wichtig, über die Zustände in ihrer Heimat aufzuklären.

Mit dem Zug wurden Solodovnykova und ihr Sohn nach Lwiw gebracht. Für die Strecke, für die man eigentlich etwa 24 Stunden fährt, brauchte der Zug zwei Tage. "Weil die Hotspots umfahren und andere Bahnhöfe angefahren wurden", schildert die Frau. "Um mehr Menschen mitzunehmen. Anweisung der ukrainischen Armee."

"Von Tag eins an bin ich berührt von der deutschen Hilfsbereitschaft."
Olya Solodovnykova

Die Zustände im Zug waren miserabel. In Abteile, die für vier Passgiere ausgelegt sind, quetschten sich 14 Personen. Menschen saßen auf dem Boden, Rücken an Rücken gelehnt versuchten einige, etwas Schlaf abzubekommen. "Manche waren zwei Tage lang nur gestanden."

Die Dankbarkeit für die Hilfe in Deutschland ist groß

Von Lwiw ging es für die beiden zu Fuß weiter. An der polnischen Grenze angekommen, holte schließlich ein Bekannter von Solodovnykova das Mutter-Sohn-Gespann ab. Auf direktem Weg ging es in Richtung Würzburg, in Sicherheit. Hier sind sie nun bei Freunden untergekommen.

"Von Tag eins an bin ich berührt von der deutschen Hilfsbereitschaft", sagt Solodovnykova. Wieder läuft ihr eine Träne dabei über die Wange. "Wir erfahren so viel Unterstützung und ein großes Zusammengehörigkeitsgefühl." Ihr sei wichtig, ihren Dank auszusprechen für die Hilfe, die sie erfahren hat, seitdem sie in Deutschland ist.

Bei der 'Reifen Quelle' am Würzburger Neuen Hafen befindet sich eine Sammelstelle für Sachspenden für die Ukraine.
Foto: Johannes Kiefer | Bei der "Reifen Quelle" am Würzburger Neuen Hafen befindet sich eine Sammelstelle für Sachspenden für die Ukraine.

Trotz der Umstände blickt sie optimistisch in die Zukunft. Der Krieg habe ihr gezeigt, wie stark ihr Volk sei. "Unser Land wird den Krieg gewinnen." Die Frage sei nur, welchen Verlust das Land bis dahin erfahren muss.

Doch jetzt geht es erst einmal um die unmittelbare Gegenwart. Genauso wie Olya Solodovnykova sind auch Katja Malatschkova und ihre Mutter dankbar für die Welle der Hilfsbereitschaft und Solidarität in Deutschland. "Das ist sehr wichtig für uns. Gott sei Dank wissen Sie nicht, was Krieg ist. Es ist wirklich schrecklich. Mein Vater, meine Freunde und Verwandten sind dort, und ich weiß nicht, ob ich sie wiedersehe", sagt Katja Malatschkova und ist den Tränen nahe. Für die Menschen in Deutschland hat sie eine Botschaft: "Lieben Sie einander. Bitte, machen Sie das!"

Der neu gegründete Verein "Mrija" (Traum) hilft in Würzburg Menschen, die aus der Ukraine geflüchtet sind und organisiert auch Hilfslieferungen in das Land. Spenden an den Verein unter dem Kennwort "Ukraine-Hilfe" auf das Konto bei der Sparkasse Mainfranken Würzburg: IBAN DE59 7905 0000 0049 3327 94, Swift-BIC: BYLADEM1SWU.

 
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  • harryamend@outlook.de
    Den geflüchteten kann man nur eines wünschen, das sie in ihrer neuen Heimat ihre Ruhe finden. Auch sind neue Freunde wichtig damit man das erlebte verarbeiten kann.
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