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Lwiw
Unser Reporter in der Ukraine: Wie der 26-jährige Artem als Cyber-Krieger gegen Russland kämpft
300.000 IT-Spezialisten legen Tag für Tag russische Internetseiten lahm. Die Ziele gibt ihnen ein Telegram-Kanal vor. Warum sich ein junger Ukrainer Hilfe aus Deutschland wünscht.
Artem ist ein Cyber-Krieger. Mit 300.000 anderen Freiwilligen bringt er in Russland Internetseiten zum erlahmen.
Foto: Till Mayer | Artem ist ein Cyber-Krieger. Mit 300.000 anderen Freiwilligen bringt er in Russland Internetseiten zum erlahmen.
Till Mayer
 |  aktualisiert: 09.02.2024 18:27 Uhr

Artems digitaler Bunker ist ein Hipster-Café etwas abseits von der berühmten Lwiwer Altstadt. Abseits genug, damit nicht die gewaltigen Besucherströme anlanden, die sich gerade durch die Stadt wälzen. All die Vertriebenen, die dankbar die ersten frühlingshaften Sonnenstrahlen genießen. Die wohltuende Wärme im Gesicht spüren wollen, eine Auszeit in einer Zeit des absoluten Wahnsinns. Manchmal sind es ihre letzten Stunden in der Ukraine für unbestimmte Zeit.

Artem selbst ist auch ein Vertriebener, einer von rund 158.00 in Lwiw. Das Café liebt er, weil es ein wenig großstädtische Urbanität ins pittoreske Lwiw holt. Geradliniger Industrial-Style, hohe Räume, aus der Nachbarschaft blickt ein Graffiti durch die Fenster. Das erinnere ihn an sein altes Leben in Kiew, das schlagartig mit dem 24. Februar endete. "Wenig Menschen, viel Ruhe, schnelles Internet und eine coole Location - was will ich mehr", sagt der 26-Jährige.

Artems Heimatstadt Kiew ist heftig umkämpft. 'Mit unseren Aktionen zeigen wir den Menschen in Russland: Da gibt es einen Krieg in der Ukraine. Und wir wehren uns.'
Foto: Till Mayer | Artems Heimatstadt Kiew ist heftig umkämpft. "Mit unseren Aktionen zeigen wir den Menschen in Russland: Da gibt es einen Krieg in der Ukraine. Und wir wehren uns."

In Lwiw teilt er sich gerade eine Ein-Zimmer-Wohnung mit seiner Freundin und deren Mutter. Die Enge ist nicht die beste Atmosphäre, um kreativ am Computer zu arbeiten. Artem klagt dennoch nicht, im Gegenteil: "Wir haben Glück gehabt. Freunde gaben uns die Wohnung. Drei Menschen in einer sehr kleinen Wohnung, das ist jetzt für viele leider in Lwiw ein Luxus geworden."

Artem erinnert sich an längst vergangene Sommer

Für den 26-Jährigen lief es bis zum 24. Februar ausgesprochen gut im Leben. Er heuerte als IT-Spezialist bei einer amerikanischen Firma in der ukrainischen Hauptstadt an. "Mit einem guten Gehalt in einer spannenden Stadt wie Kiew zu leben. Es war einfach gut", sagt der junge Mann. Abends ging es mit seiner Freundin oft in die Khvyl´ovyy Bar in Podil. "Das ist unsere absolute Lieblings-Location. Im Sommer kann man im Hof unter freiem Himmel feiern. Sie machen wirklich legendäre Cocktails. Sie machen, sie machten? Was wird in diesem Sommer sein?", fragt der 26-Jährige nachdenklich.

Artem ist ein "Digital Native", dem die Welt offen steht. Und der die Welt auch offen sieht. Bis zur Invasion galt Kiew als ein ausgesprochen florierender "Digital Hub". Also eine Job- und Ideen-Maschine für junge und gut ausgebildete Menschen. "Auch das ist eine Gefahr für Putin: ein demokratisches Nachbarland, in dem etwas vorwärtsgeht. Ich konnte viel reisen, leider kam dann Covid", berichtet er. Das Start-Up, für das er arbeitet, ist weiter erfolgreich, berichtet er. Die Firma entwickelt digitale Einkaufshäuser für kleinere und mittelständische Unternehmen. "Das macht mir Spaß, dafür zu sorgen, dass nicht nur die großen Player von der Digitalisierung profitieren", erklärt der IT-Spezialist.

IP-Adressen der Ziele werden via Telegram durchgegeben

"Die Woche nach dem 24. Februar war die schwerste für mich. Ich war wie leer. Ich bin in ein tiefes Loch gefallen. Es war einfach unfassbar, was passiert", sagt der 26-Jährige. Zu begreifen, dass über Nacht plötzlich alles anders ist. Das alte Leben sich auflöst wie eine der schwarzen Qualmwolken nach einem Raketeneinschlag und den Blick freigibt auf ein unüberschaubares Trümmerfeld. "Ich habe vom Kopf her verstanden, was passiert. In meinem Herzen ist es bis jetzt noch nicht vollständig angekommen. Und ich denke, so geht es vielen von uns Ukrainern. Aber mir war dann klar: Ich muss etwas tun. Für mein Land, aber auch, weil es mir psychisch selber hilft", erklärt Artem.

So kommt es, dass Artem im Lwiwer Hipster-Café nicht nur an digitalen Läden baut. Sondern hilft, dass in Russland staatliche Internetseiten zusammenbrechen. Oder die von privaten Unternehmen. "Es geht ziemlich einfach. Auf dem Telegram-Kanal 'IT-Army of Ukraine' des ukrainischen Ministeriums für digitale Transformation werden die IP-Adressen der Ziele durchgegeben."

"Staatliche Homepages sind jetzt besser geschützt - Die Russen schlafen nicht"

Dann geht es los: "Wir erzeugen Traffic, bis das Ziel wegen Überlastung seine Aufgabe nicht mehr erfüllen kann. Rund 300.000 von uns machen das. Ich bin nur einer von vielen. Menschen mit gewissen IT-Kenntnissen, die auch verstehen, wie man eine Cloud für eine solche Aktion nutzen kann und einige sinnvolle Tools. Meist sind es Ukrainer. Aber nicht nur. Jeder in Deutschland kann mitmachen. Und es wäre super, wenn das meine deutschen IT-Kollegen tun würden. Nur Mut, helft uns", erklärt Artem.

'Ich hasse die Russen nicht. Aber die Menschen in Russland sollen merken, dass es einen Krieg gibt', sagt der 26-jährige Artem.
Foto: Till Mayer | "Ich hasse die Russen nicht. Aber die Menschen in Russland sollen merken, dass es einen Krieg gibt", sagt der 26-jährige Artem.

So einfach wie zur Anfangszeit sei es jetzt nicht mehr, Erfolge zu erzielen. "Natürlich sind die staatlichen Homepages jetzt besser geschützt. Die Russen schlafen nicht", sagt der junge Mann. So seien nun weniger geschützte Seiten Ziele von Angriffen. "Wenn plötzlich keine Flug- und Zugtickets mehr gebucht werden können, das ist auch ein Erfolg", findet Artem.

Artems Forderung: " Wir müssen in Europa weg von russischem Gas und Kohle"

"Ich hasse die Russen nicht. Einige meiner russischen Kollegen sind gerade selbst geflohen, weil die Putin-Diktatur keine Luft zum Atmen lässt. Ich schätze sie sehr. Aber die Menschen in Russland sollen merken, dass es einen Krieg gibt. Hier werden unsere Städte zerbombt, unsere Menschen getötet. Sie müssen endlich bereit sein, zu begreifen, was passiert. Putins Propaganda kann nicht für alles vermeintliche Unwissen eine Entschuldigung sein. Ich denke, unsere digitalen Aktionen sind mehr als fair, bei dem Leid, das die Ukrainer erfahren müssen."

"Wenigstens hat Corona digitale Strukturen gebracht, die uns nun nutzen: vom Homeschooling bis zum Homeoffice. Vieles kann so trotz des Kriegs weiter bestehen. Wir Ukrainer sind da sehr findig, darauf bin ich stolz", sagt der junge Mann. "Eines zeigt uns dieser Krieg: Wir müssen in Europa weg von russischem Gas und Kohle. Damit bezahlt Putin sein Morden. Jedes neue Windrad hilft. Auch in Deutschland. Macht weiter mit eurer Energie-Revolution. Nicht nur wegen der Klima-Katastophe. Russland wird weiter ein aggressives Land bleiben. Auch nach diesem Krieg. Da bin ich mir sicher", sagt Artem.

Der junge Mann hat gerade seine thailändische Suppe leer gelöffelt. "Nicht, dass Sie denken, wir Ukrainer kennen nur Borscht", lacht er. Dann wendet er sich wieder seinem Laptop zu. Ist er gerade ein IT-Ingenieur oder ein Cyber-Krieger? Artem lacht: "Nennen Sie mich lieber Cyber-Volunteer."

Über den Autor

Till Mayer
Foto: Till Mayer | Till Mayer
Till Mayer ist Lokalredakteur bei der Main-Post-Tochter Obermain Tagblatt in Lichtenfels. Darüber hinaus arbeitet er seit vielen Jahren eng mit internationalen Hilfsorganisationen zusammen und berichtet aus Kriegs- und Krisengebieten – so auch seit 2007 aus der Ukraine.
Seit fünf Jahren ist der Krieg im Osten des Landes für den oberfränkischen Reporter und Fotografen ein Langzeitprojekt. Im Erich-Weiß-Verlag ist sein Bild- und Reportagenband "Donbas – Europas vergessener Krieg" erschienen. Für seine Reportagen wurde Till Mayer mehrfach ausgezeichnet.
Jetzt ist er wieder in die Ukraine aufgebrochen. Nach der jüngsten russischen Großinvasion erzählt er mit seinen Fotos und Texten für diese Redaktion von den menschlichen Schicksalen.
Quelle: Main-Post
 
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