Gleich am großen Eingangsportal steht ein braunes Klavier. Seitlich an einer der Säulen platziert, die das wuchtige Vordach tragen. Pianist Alex darf mit seinem Instrument nicht im Weg stehen. In einer Zeit wie dieser wird jeder Quadratmeter Fläche gebraucht. Über Alex ragt mächtig die Kuppel des ehrwürdigen Gebäudes auf. Der Lwiwer Hauptbahnhof erzählt im Neoklassizismus und mit Jugendstilelementen voller Leichtigkeit von Bürgerstolz, vom Aufbruch in ein neues Jahrhundert und von einer Zeit, als Lwiw noch Lemberg hieß – und eine Metropole im Habsburger Reich war.
Züge kommen aus umkämpften Städten nach Lwiw
Das klassische Spiel des jungen Pianisten Alex passt gut zu dem Baudenkmal. Doch die Reisenden, die am Pianospieler vorbeiziehen, sind keine Touristen. Sie kommen nicht, um ein paar Tage in einer Weltkulturerbestadt zu verbringen. Das war am 24. Februar vorbei – dem Tag, als die große russische Invasion begann. Heute eilen die Menschen nicht mit dem Koffer in der Hand vorbei, um schnell zum Zug zu kommen. Sie bewegen sich im Schneckentempo in Richtung der Gleise, die sie ins nahe Polen oder nach Ungarn bringen sollen. Und sie strömen dichtgedrängt mit ihren Habseligkeiten aus dem Gebäude, wenn sie Züge aus umkämpften Städten nach Lwiw bringen. Der junge Pianist Alex gibt seine Konzerte für Menschen, die gerade ihre Heimat verloren haben.
Weit vor dem Bahnhofsgebäude beginnt die Warteschlange der Ausreisenden, die sich über Hunderte von Metern quer durch den Bahnhof bis zu den Gleisen zieht. In ihren Koffern und Rucksäcken haben die Flüchtenden Pässe, ihre wichtigsten Dokumente und die notwendigste Kleidung dabei. Auch Menschen aus Lwiw verlassen mittlerweile die Stadt. Väter umarmen dann vor dem Bahnhof vielleicht für lange Zeit das letzte Mal Frau und Kind. Sie können ihr Familien nicht begleiten. Wehrfähigen Männern im Alter von 18 bis 60 Jahren ist die Ausreise aus der Ukraine nicht gestattet.
Keiner kann sicher sagen, wie viele Tausend Tag für Tag am Lwiwer Bahnhof ankommen
Die 16-jährige Alina wurde von ihrem Vater noch in ihrer Heimatstadt Dnipro in die Arme genommen, als ihre Flucht begann. Vier Tage ist sie jetzt schon mit ihrer Mutter unterwegs. Vier Tage Kälte, Menschenmassen, Angst, Gedränge und wenig Schlaf. "Es war schwierig, aber wir haben keine Angst", sagt sie tapfer. Der Bahnhof in Lwiw bedeutete für Alina die Ankunft in einer vorläufigen Sicherheit.
200 000 Binnenvertriebene wie Alina haben derzeit in der westukrainischen Stadt Zuflucht gefunden. In einer Stadt, die zuvor weniger als eine Million Einwohner zählte. Über 1,5 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer sind aufgrund des russischen Überfalls schon aus dem Land geflohen. Wie viele Tausend Tag für Tag am Lwiwer Bahnhof ankommen und abfahren – das kann in dem Chaos wohl keiner sicher sagen. Dazu kommen noch die Flüchtenden, die am nahen Busbahnhof ihr Glück versuchen.
Alina müht sich ein Lächeln ab. Es fällt ihr nicht leicht. "Morgen werde ich 17. Dann bin ich wohl schon in Polen. Stellen Sie sich doch vor, ich bin dann das erste Mal in meinem Leben im Ausland", sagt der Teenager.
Geflüchtete Tatjana: "Nichts ist plötzlich mehr so wie zuvor"
Polen ist das Ziel von Mutter und Tochter. Nur das Land, keine Stadt, keine Adresse, zu der sie wollen oder können. Alina hat nicht die geringste Vorstellung davon, was sie dort erwartet. "Verwandte und Freunde haben wir wie viele andere Ukrainer dort leider keine. Aber es wird doch nicht länger als eine Woche dauern, da bin ich mir sicher", sagt sie. Ihre Mutter blickt traurig, als sie ihre Tochter hört. Dann können beide aufrücken, sie stehen nun an der ersten Treppenstufe am Eingangsportal. Zum Gleis sind es noch gut 350 Meter.
Rund 50 Meter entfernt zittert Berti trotz seines Pulli-Überziehers mit Rollkragen. Berti ist ein vermutlich nicht ganz reinrassiger Chihuahua, und Tatjana drückt den kleinen Vierbeiner ans Herz. "Berti kann kaum verstehen, was hier passiert", meint sie und streichelt dem Hund über den kleinen Kopf. "Aber wer von uns Menschen kann das schon. Es ist alles wie in einem bösen Traum. Nichts ist plötzlich mehr so wie zuvor", fügt sie hinzu.
Tatjana lebte mit ihrer Familie in einem Vorort von Kiew. Dann schlugen die ersten Granaten im Nachbarviertel ein. "Wir hörten die Explosionen. Da wusste ich, dass wir nicht mehr sicher sind. In der Türkei leben und arbeiten Verwandte, deshalb versuchen wir, dorthin zu kommen", sagt die 37-Jährige. Dann schweigt sie kurz und atmet tief durch. "Es ist schwer, noch Kraft zu finden", fügt sie hinzu und kämpft mit den Tränen.
Viele Ukrainer und Ukrainerinnen melden sich als Freiwillige bei Hilfsorganisationen
Tatjana steht abseits der Warteschlange. Ein kleines Zeltdorf ist dort entstanden. Zivilschutz-Helfer bereiten Eintopf in einer Gulaschkanone zu. Aus einem mächtigen Topf dampft es gewaltig. Mit einem großen Holzprügel rührt der Koch durch die dicke rote Suppe. Das Rote Kreuz verteilt den Eintopf im benachbarten Zelt in Pappbechern. Auch Tatjana hält einen der Becher in der Hand.
Viele Ukrainer und Ukrainerinnen melden sich als Freiwillige bei Hilfsorganisationen oder gründen eigene Initiativen. Der Krieg, den Putin in seinem kleinen Nachbarland mit voller Wucht ausgeweitet hat, zeigt eine starke ukrainische Zivilgesellschaft. Ein Zusammenhalt, auf den die Menschen zu Recht stolz sind.
Rotkreuzhelfer Oleg verteilt neben dem Eintopf belegte Brötchen. Der 47-Jährige zählt zu den 200 Ehrenamtlern, die sich seit Beginn der Invasion spontan dem lokalen Roten Kreuz angeschlossen haben. Oleg hat lange Zeit in Franken gelebt, berichtet er. "Grüßen Sie mir Deutschland", sagt er lächelnd. "Die spontanen Freiwilligen unterstützen unser bestehendes Ehrenamtlichen-Team von 50 Helferinnen und Helfer bestens. Für uns als Rotes Kreuz gilt es jetzt, eine gewaltige Herausforderung zu stemmen", erklärt Ulyana Stelmakh, die Chefin des Lwiwer RK-Oblastverbands.
30-jährige Journalistin: "Ich glaube fest an ein gemeinsames Europa"
Manche der Helferinnen und Helfer sind selbst Vertriebene. So wie Kateryna, die aus Kiew geflohen ist. Die 30-Jährige schrieb als Journalistin über die Raumfahrt, jetzt füllt sie den Eintopf in Becher und reicht sie immer wieder aufs Neue mit einem Lächeln an die Wartenden weiter. "Zuerst wusste ich vor lauter Angst nicht ein und aus. Dann wurde mir klar, es ist wichtig, etwas zu tun. Für mein Land und seine Menschen da zu sein. Viele helfen wie ich. Ein Freund hat eine kleine Spendenkampagne gestartet und 3000 Euro für Medikamente gesammelt. All das gibt uns, was wir jetzt brauchen: Mut", erklärt die junge Frau. "Wenn dieser Krieg vorbei ist, besuchen Sie doch die Sophienkathedrale. Meine Heimatstadt ist eine wunderschöne europäische Stadt. Und ich glaube fest an ein gemeinsames Europa", sagt die 30-Jährige zum Abschied. Dann muss sie einen Schwung neuer Brote schmieren und belegen.
In den Abendstunden kehrt ein wenig Ruhe ein. Die lange Schlange vor dem Bahnhof ist verschwunden. Das Rote Kreuz verteilt weiter Brötchen, die Feldküche dampft schon für den morgigen Tag. In Fässern brennen Feuer als Wärmeplätze. Auch einige Obdachlose nutzen sie in den kalten Winternächten und freuen sich über eine heiße Suppe. Sie haben ihr Zuhause schon vor langer Zeit verloren.