Olha schmiert sich ein Lage Marmelade auf das Brot. Der Tee dampft in der Tasse. Im Fernsehen rollen die Panzer. Häuser brennen. Drohnenbilder zeigen zerstörtes russisches Kriegsgerät. Der Nachrichtensprecher gibt bereits die abschließende morgendliche Analyse zum Frontgeschehen. Da schlägt fast punktgenau um 7.45 Uhr mit einem lauten Krach der Krieg direkt in das Wohnzimmer der 70-Jährigen ein. "Mein Gott, es war ein riesiger Schlag. Alles hat gebebt. Die Fenster sind gesplittert", sagt sie und drückt gegen ihren Zeigerfinger, der leicht blutet.
Es ist ein Wunder, dass die Seniorin nur mit einer Schramme am Finger aus ihrer Wohnung flieht. Olha ist auf einen solchen Notfall gut vorbereitet. Sie hat ihre beste Jacke griffbereit, grau mit schwarzem Bortenbesatz. Sie schlüpfte hinein, zog den Hut fest über den Kopf, eilte die Treppe hinunter ins Freie. Das war vor gut zwei Stunden.
Jetzt steht sie verloren vor ihrem Wohnblock. Feuerwehrleute laufen an ihr vorbei. Die Polizei hat den ganzen Komplex gesichert. Ein Krankenwagen ist noch in Bereitschaft. Die Gehwege sind mit Glassplittern übersät, zerborstene Rahmen hängen aus Fensterhöhlen. Und Olha ringt noch immer nach Fassung.
Ein Toter und vier Verletzte in der Nachbarschaft
"Seit 1989 wohne ich in diesem Haus. Wir sind eine gute Gemeinschaft hier", erklärt sie. Die Gemeinschaft wird um ein Mitglied trauern müssen. Vier Menschen aus der Nachbarschaft sind verwundet. Das meldet später ein Nachrichtenkanal. Der ukrainischen Flugabwehr gelang es demnach, eine russische Rakete abzuschießen. Im Wohnzimmer von Olha schlug mutmaßlich ein Trümmerteil ein.
Olha hat gerade ihren ersten Schock überwunden. "Ist das nicht schlimm? Einen Krieg vom Zaum zu brechen, was verspricht sich Putin davon? Er muss doch auch aus der Geschichte lernen. Krieg ist nie eine Lösung."
Die 70-Jährige ist eine recht resolute Frau, stolz auf ein erfülltes Arbeitsleben als Ingenieurin. Weil sie kein ängstlicher Mensch ist, ging sie bei Alarm auch nicht in den Luftschutzkeller, erklärt sie. "Der ist oft genug voll. Besser, wenn da Familien mit Kindern Platz finden. Und ich war mir sicher, stets Glück zu haben", fügt sie hinzu.
Nach dem Angriff wird sie sich wohl doch ein Plätzchen suchen, wenn der Alarm nachts wieder aufheult. "In der Wohnung dürften nur die Fenster kaputt sein, hoffe ich. Ich darf noch nicht in das Haus zurück, bevor alles gesichert ist. Aber ich bete, dass nicht zu viel kaputt ist", sagt die Rentnerin.
Dann ist plötzlich alles still. Über den Köpfen, hoch in der Luft, ist für Sekunden ein merkwürdiges Rauschen zu hören. "Da ist unsere Antwort auf den Angriff: ein ganzer Schwung Grad-Raketen", meint jemand. Dann geht wieder alles seinen Gang. Die ersten Splitter werden zusammengefegt. Ein Polizist mit Helm, Kalaschnikow und schusssicherer Weste tröstet Olha. "Machen Sie sich keine Sorgen um Ihre Wohnung, gute Frau", sagt er mit warmer Stimme.
Auf der anderen Seite des Blocks liegt noch ein weißes Hemd, die Mitte ist von Blut getränkt. Es blieb vermutlich liegen, als die Rettungskräfte den Toten und die Verwundeten bargen.
Auf dem Weg von Olhas beschädigtem Wohnhaus zu Oleg Mikhailuta steht in der Ferne eine Rauchfahne über Hochhäusern, ebenfalls ein Raketeneinschlag. In den Himmel zieht ein zittriger Kondensstreifen steil nach oben, eine Flugabwehrrakete. Sie verschwindet im Nichts.
Eine halbe Stunde später kurz helle Streifen. Grad-Raketen, die die Ukrainer auf die russischen Angreifer abfeuern. Mächtige Panzersperren aus Stahlträgern, Bunker aus Betonplatten und Sandsäcken markieren Checkpoints an den Kreuzungen der Straßen. Auch Straßenbahnen fungieren oft als Barrieren. In einer Nebenstraße steht ein ausgebrannter Bus.
Gegenüber einer Metrostation hat die Druckwelle eines Einschlags Teile des Dachs eine mehrstöckigen Hauses weggeweht, als wäre es aus Pappe. Splitter und Trümmer liegen vor dem Haus.
Eindrücke aus der Fahrt durch die Stadt. Dazu eine bedrückende Leere, eine eigentümliche Stille. Die Menschen fehlen auf den Gehwegen, an den Ampeln, vor den Geschäften. Mit Vororten zählte die Stadt am Tag der Invasion fast vier Millionen Einwohner. Mehr als die Hälfte dürfte schon vor den Kämpfen geflohen sein.
Putins Plan, Kiew im Handumdrehen einzunehmen, ist gescheitert
Kiew ist ein Hauptziel der russischen Invasion. Raketenangriffe haben bis zum Wochenende nach ukrainischen Angaben rund 250 Menschenleben gekostet, 912 Menschen wurden dabei verwundet. Der Plan Putins, die Stadt im Handumdrehen einzunehmen, ist gescheitert. Doch den russischen Verbänden ist es unter großen Verlusten gelungen, die Hauptstadt der Ukraine von drei Seiten aus zu umklammern. Nur der Süden steht nicht unter Beschuss.
Das Haus von Oleg Mikhailuta bietet einen Blick über weite Teile der Stadt. Es ist ein stattliches Gebäude, in der auch das Studio und Produktionsräume des Künstlers zu finden sind. Der 48-Jährige zeigt voll Stolz auf die Stadt, die sich unter dem Balkon ausbreitet. In der Ferne grummelt Artillerie-Beschuss. "Nicht darauf achten. Das ist weit genug weg", sagt der Sänger.
Er ist einer der ganz Großen im ukrainischen Hip-Hop-Business. Der 48-Jährige und seine Band TNMK sind Legenden. Kommt ein neuer Hollywood-Streifen mit Johnny Depp, verleiht Oleg Mikhailuta dem US-Star eine Stimme.
Aber eigentlich geht es dem Künstler darum, von der Ukraine zu erzählen. Oleg Mikhailutas Clips sind nicht selten eine Reise durch die Geschichte der Ukraine. Und von einem schmerzhaften Weg zur Unabhängigkeit. Er singt vom bis vor Kurzem noch vergessenen Krieg im Donbas und von einem Land, das er schon vor der Invasion vom mächtigen Nachbarn bedroht sah.
Sein Hip-Hop kommt an. Für den Musiker und Producer lief die Karriere gut. 2022 sollte ein weiteres neues Album erscheinen. Dann kam der 24. Februar und die große Invasion. Charkiw steht noch mehr unter Beschuss als die Hauptstadt. "Ich wurde in Charkiw geboren. Freunde und Teile der Familie leben dort. Es schmerzt, was dort geschieht", sagt der Musiker.
Der Hip-Hopper Oleg Mikhailuta verteidigt jetzt sein Land mit einem Gewehr
"Als die Invasion begann, war für mich sofort klar: Da will ich nicht beiseite stehen. Da gibt es eine Aufgabe zu erfüllen." Oleg Mikhailuta meldete sich zu den Territorialen Verteidigungskräften. Gut die Hälfte der Band tat das Gleiche. So wie viele andere Stars und Künstler der Ukraine. Von einem Verband weiblicher Freiwilliger bekam der 48-Jährige ein Schnellfeuergewehr geschenkt. "Das letzte Mal, als ich eine Kalaschnikow abfeuerte, war das noch im sowjetisch geprägten Wehrunterricht als Teenager", sagt Oleg Mikhailuta und lacht leise. Dann nimmt er das Gewehr und posiert für ein Foto.
Für Oleg Mikhailuta wird am Stadtrand von Kyjiw Europa verteidigt. "Ein gemeinsames und starkes Europa ist für uns alle alternativlos. Daran glaube ich fest. Das Gute wird gewinnen", sagt der Musiker. "Unsere Kugeln schicken wir mit Liebe Richtung Moskau", sagt er augenzwinkernd.
Dann wird er ernst. "Jeder lügt, der sagt, er hat keine Angst vor einem Kampf auf Leben und Tod. Auch ich fürchte, was kommt, wenn ich vielleicht bald schießen muss. Wir Ukrainer lieben den Frieden. Nicht wir sind beim Nachbarn einmarschiert", sagt der Künstler zum Abschied.
Der Tag neigt sich dem Ende entgegen. Es ist an der Zeit, einen sicheren Schlafplatz zu finden. Den bieten Olha, ihre Tochter Marina, Denis und Hund Whiskey im Stadtviertel Podil. Podil ist bekannt als das Kreativ-Viertel von Kiew mit Theatern, Tango-Bars und guten Restaurants. Jetzt, am einbrechenden Abend, sind die Straßen wie leer gefegt. Im Keller bereitet sich die Hausgemeinschaft auf die Nacht vor.
Im Luftschutzkeller wird aufgetischt und gemeinsam gegessen
Das Gebäude wurde zu Zeiten Stalins gebaut, damals als ein Vorzeigeprojekt. Mit hohen Zimmern und wuchtiger Eingangstüre. Im gemauerten Keller haben die Anwohner Matrazenlager aufgebaut. "Wir sind hier alle seit der Invasion zusammengewachsen", sagt die 30-jährige Marina. Die IT-Spezialistin bringt jetzt ehrenamtlich Lebensmittelpakete und Medikamente zu alten Menschen: "Die Senioren haben nicht die Kraft, sich stundenlang an einer Apotheke anzustellen", erklärt die junge Frau.
Jeder Haushalt hat ein bisschen etwas gekocht. In der Mitte des Behelfsbunkers steht ein Campingtisch, dort wird aufgetafelt. Nudelsalate, Kartoffelauflauf, belegte Brote und Vareneky (gefüllte Teigtaschen) gibt es. Und weil ein Journalist aus Deutschland zu Gast ist, sogar französischen Cognac.
"Zum Glück hat Stalin diesem Haus einen Luftschutzkeller verpasst. Aber andererseits, ohne solche Typen wie Stalin bräuchten wir keine Luftschutzkeller", sagt Denis und lacht. Dann rattert die Luftschutz-Warnapp auf dem Smartphone. Draußen tönen schon die Sirenen. Es wird bis zum Morgen noch drei weitere Alarme geben. Die Menschen im Keller feiern trotzdem das Leben. "So sind wir Ukrainer eben", sagt Olha.