Natalyas Augen blicken müde. Hinter ihr türmt sich ein ganzer Haufen Altkleider auf. In dem breiten Gang herrscht ein dämmriges Licht. Vor zwei Tagen ist sie mit ihrem Sohn Ronan (15 Jahre) und ihrer Tochter Ira (7) angekommen. "Ich hoffe, wir sind endlich in Sicherheit", sagt die 41-Jährige. Zuflucht haben sie in einem Internat im Oblast Ternopil gefunden. Zuhause, im Umland der Hauptstadt Kyjiw, bedrohte der Krieg das Leben. Die Kämpfe kamen immer näher. "Einmal schlug eine Rakete so nah ein, dass die Fenster vibrierten."
Da wusste die Familie, dass es zu gefährlich ist zu bleiben. "Dann erhielten wir kurz darauf ohnehin die Aufforderung zur Evakuierung. Ein Bus kam, wir stiegen ein, umarmten noch einmal meinen Mann", sagt Natalya. "Es ging alles so schnell." Ihr Mann blieb zurück, er arbeitet als Polizist. "Es war wie in einem unwirklichen Traum. Aber nein, es ist kein Traum. Im Gegenteil, dazu müsste man schlafen könnten", sagt die 41-Jährige. Drei Nächte habe sie keine Ruhe finden können. Das Sprechen fällt ihr nicht leicht.
Geflohen nur mit Papieren und Kleidung - und Milaschka, dem Teddy
"Wir hatten gerade gebaut. Ein schönes, großes Haus. So lange haben wir darauf gespart. Aber was bedeutet das Haus. Meine Kinder vermissen ihren Vater und ich meinen Mann." Mehr als ihre Papiere und Kleidung konnten die drei nicht mitnehmen. Ira hat zumindest ihren Lieblingsteddy retten können. Milaschka heißt er. Man sieht seinem Fell an, dass er von dem kleinen Mädchen heiß und innig geliebt wird.
"Ira und Ronan müssen erst einmal Ruhe finden. Sie sind völlig entkräftet", sagt die Mutter. "Hören sie eine Alarmsirene, macht ihnen das Angst. Und mir auch." Sie versuche, nicht mehr an den Krieg zu denken, ihre Gedanken frei zu bekommen. "Aber, mein Gott, wie soll mir das gelingen?" Die Familie will in der Ukraine bleiben, sagt Natalya. Vorerst, wenn sie sicher sind. Doch Raketen schlagen im ganzen Land ein, auch im Oblast Ternopil. "Kann denn nicht irgendjemand diesen Wahnsinn stoppen? Was haben wir denn den Russen getan? Nichts!"
Waisen und Betreuerinnen, Kinder und ihre Mütter: 100 Menschen hat das Internat aufgenommen
Der Direktor des Internats führt durch das Gebäude. Alles wirkt schlicht und sauber, ein wenig wie in den 1990er Jahren. Volodymyr hat ein freundliches rundes Gesicht, die grauen Haare sind zum Scheitel gekämmt. "Gut 100 Menschen haben wir hier aufnehmen können. Waisen mit ihren Betreuerinnen und Kinder mit ihren Müttern", sagt der Internatsleiter. Er bittet darum, nur den Oblast, den Bezirk zu nennen, nicht den Namen des Städtchens, in dem das Internat steht. "Die Russen sind völlig außer Kontrolle. Ich will nicht, dass wir hier bombardiert werden."
Seine Angst kommt nicht von ungefähr. Die Berichte über russische Angriffe auf Schulen und Krankenhäuser mehren sich. Nach ukrainischen Angaben wurden seit Beginn der Invasion am 24. Februar bereits 115 getötet.
Dafür, dass 100 Menschen in dem großen Gebäude leben, herrscht eine eigentümliche Stille. Volodymyr nickt traurig und öffnet behutsam eine Tür. Es ist ein kleiner Raum für ein Klassenzimmer. An der Wand hängt eine Tafel, die davon erzählt, dass hier normalerweise Unterricht stattfindet. Vier Kinder liegen im Dämmerlicht in ihren Betten, zwei schlafen, eines hält sein Spielzeug über den Kopf und lässt dessen Bein und Kopf wackeln. "Es schmerzt zu sehen, wie der Krieg die Seelen von unschuldigen Kindern verletzt. Sie haben in den vergangenen Wochen viel durchmachen müssen“, sagt der 68-jährige Direktor leise, als er die Türe wieder schließt. "Woher nimmt sich Putin das Recht, Kinder so zu schaden?"
WHO warnt vor den psychischen Folgen für die vielen Kinder
Laut offiziellen ukrainischen Angaben mussten 1,5 Millionen Kinder aufgrund des Kriegs fliehen und sind nun noch als Vertriebene in der Ukraine oder haben das Land als Flüchtlinge verlassen. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) warnt eindringlich vor den psychischen Folgen der Flucht- und Kriegserlebnisse für die Kinder. Und sie fordert den Schutz des Rechts auf Gesundheit um jeden Preis ein.
Die Menschen aus dem kleinen Städtchen helfen direkt und ohne große Worte. "Sie bringen uns Lebensmittel und Kleidung. Die Hilfsbereitschaft ist sehr groß. Das gibt uns allen hier viel Mut", sagt der Internatsleiter. Und er erzählt, wie sie vor der Invasion oft deutsche Unterstützer zu Gast hatten.
Manche der Einheimischen stehen den Geflüchteten jetzt als Freiwillige zur Seite. Wie ein junges Pärchen. Sie hilft in der Küche, damit die Mahlzeiten für die Kinder und Erwachsenen rechtzeitig auf den Tisch stehen. Er ist Lehrer und versucht, die Kinder ein wenig aufzubauen. "Ich hoffe, in ein paar Tagen wird es ihnen schon besser gehen", sagt der junge Mann. "Jetzt sollen sie erstmal viel schlafen und Kraft finden. Wer weiß, was ihnen noch bevorsteht."