Missbrauch kann in der Berichterstattung zur Gratwanderung werden. Man muss fragen, wie viele Details sind angemessen? Das hat ein Kollege getan, als in der Redaktion kontrovers diskutiert wurde, ob man im Artikel vom 28.6.„Missbrauchsprozess: Warum bemerkte die Mutter nichts?“ zu viele Einzelheiten über seine Praktiken (Vorbereitung, Tathergang und Ort) über Taten mitgeteilt hat, die einem Angeklagten vorgeworfen werden.
Antwort und Gegenfrage
Der fragende Kollege hat auch selbst geantwortet: Bei jenem Beitrag seien die Details notwendig, um die ganze Dimension des schweren sexuellen Missbrauchs darzustellen. Nun stelle ich die Gegenfrage: Waren die zusammenfassend aufgezählten Vorwürfe nicht deutlich genug? „Schwerer sexueller Missbrauch eines Kindes in vier Fällen, Vergewaltigung, besonders schwere Vergewaltigung in jeweils einem Fall, sexueller Missbrauch von Schutzbefohlenen in fünf Fällen.“
Was wirklich wichtig ist
Eine Kollegin hat auf den Punkt gebracht, was in Missbrauchsberichten Vorrang hat: „Wichtig ist, dass wir das Opfer schützen.“ Und im vorliegenden Fall sind das Mutter und Opfer, ihre noch jugendliche Tochter. Beide aus dem Verbreitungsgebiet dieser Zeitung. Es besteht die Gefahr, dass das über Jahre missbrauchte Mädchen über das Lesen in der Tageszeitung erneut leiden muss. Sie zu schützen hat bei Abwägungen Priorität. So versuchen Gerichte stets zu vermeiden, minderjährige Opfer in Verhandlungen wiederholen zu lassen, was sie erlitten haben. Zumal sogar die Gefahr nicht ganz auszuschließen ist, dass die betroffenen Personen aufgrund der Tatumstände identifiziert werden könnten.
Verzicht auf Details
Aber auch bei Missbrauchsfällen aus anderen Regionen bedarf es selten näherer Beschreibungen. Gibt es doch auch Personen, die zu Nachahmungstätern werden könnten. So meine auch ich, in diesem Fall hätte man auf Details verzichten sollen. Der Prozess wird fortgesetzt ...
"Turnen ist jung und sexy"
Ich betone, dass ich nun das Thema wechsle, obwohl mir Leser J.B. geschrieben hat, dass er angesichts zahlreicher Missbrauchsfälle, die im Nahbereich (Familie, Nachbarschaft, Sportverein) auftreten, darüber entsetzt ist, dass in einer Überschrift stand:
„Turnen 2019 ist jung und sexy“ (3.6. Einwurf /ist Meinung zu Berichten über das Landesturnfest in Schweinfurt/Kopie am Textende). Da sei die Verwendung von Begriffen wie "sexy" und "körperbetonte Kleidung" in einem Bericht bzw. Kommentar mehr als daneben.
Hat mit Missbrauch nichts zu tun
Ich will die Moral keines Lesers in Frage stellen, aber festhalten, dass „sexy“ in der Umgangssprache längst ziemlich weit reichend genutzt wird. Im vorliegenden Zusammenhang stand es nicht etwa für sexuell erregend, sondern für attraktiv, cool, angesagt oder nur für gut. Man kann sexy eben auch als Merkmal für Ereignisse oder Sachen einsetzen. Etwa so, wie es zum Image Berlins schon hieß: „Arm, aber sexy“. Nicht alles was erotisch klingt oder anmutet, hat etwas mit Missbrauch zu tun.
Frühere Leseranwalt-Kolumnen zum Thema
"Wir müssen nicht alle Details über die Sexualpraktiken von Jörg Kachelmann erfahren" (2010)
"Amstettener Familie soll nicht Opfer ihres Namens bleiben" (2008)
"Eschenau - kleines Dorf im medialen Vergrößerungsglas" (2007)
"Eschenau - kein Ort für Scheckbuch-Journalismus" (2007)
"Für Smartphone und Sex auf der Titelseite hatten viele Leser kein Verständnis" (2014)
"Erotik macht einem Vater Sorgen" (2009)
Anton Sahlender, Leseranwalt. Siehe auch www.vdmo.de