Verstehen kann ich durchaus, dass Leute, die einer Partei nahestehen, vor Wahlen zunehmend kritisch werden. Ich empfehle ihnen aber, darüber nicht zu versuchen, auch anderen ihre Maßstäbe aufzudrücken, in den vorliegenden Fällen ihrer Tageszeitung.
Befürchtung eines Lesers
So schreibt mir Leser G.H., für ihn sei es eine "dümmliche Angelegenheit", wenn in einer Veröffentlichung schon jetzt eine Maßnahme bewertet werde, obwohl die gerade erst beginne. In einem solchen Fall geht man seiner Meinung nach mit der journalistischen Freiheit zu weit. Er bezieht seine Kritik auf den Beitrag vom 1. September zum Familiengeld, das genau ab diesem Tag in Bayern gezahlt wurde. Überschrift:
"Bayerns Familiengeld: Für Reiche sicher, für Arme unsicher" (Siehe Foto). Für G.H. wäre eine solche Beurteilung erst in einem halben Jahr möglich, dann wenn die Ergebnisse sichtbar sind. Nun fragt er gar, ob durch die negative Schlagzeile "Wahlmanipulation" gegen die Staatsregierung erfolgen sollte?Politikern rechtzeitig auf die Finger schauen
Nein, es ist keine Manipulation, wenn Journalisten Politikern mit Veröffentlichungen auf die Finger schauen und Ergebnisse ihres Wirkens offenlegen. Ebenso wenig sind es negative oder positive Schlagzeilen, wohl selbst dann nicht, wenn sie parteiisch oder schlecht gemacht sein sollten. Tatsächlich sollen in Beiträgen die Schwächen und Stärken politischer Maßnahmen rechtzeitig erkennbar gemacht werden. Das gilt natürlich gerade vor Wahlen - in Zeiten also, in denen solche Artikel auf erhöhte Aufmerksamkeit stoßen.
Eigentlich zu spät
Wichtig ist es aber, dass in Medien immer rechtzeitig informiert wird, möglichst noch bevor Schwierigkeiten auftreten und damit das Kind schon in den Brunnen fällt. Das heißt, am besten es wird schon frühzeitig vor dem Start einer Maßnahme auch auf mögliche Probleme hingewiesen. Die kenntlich zu machen und Diskussionen darüber zu initiieren, gehört den Aufgaben der Medien. Im vorliegenden Fall war über eine erkennbar mit dem Familiengeld verknüpfte Problematik erst bei ihrem Start berichtet worden. Eigentlich also sogar schon zu spät.
Siehe auch mainpost.de: "Immer wahrscheinlicher: Zweierlei Recht im Familiengeld"
Die andere Perspektive
Drastisch erklärt hat mir ein Anrufer, offenkundig CSU-Anhänger, dass er das Gefühl habe, diese Zeitung wolle der neue „Vorwärts“, das Parteiorgan der SPD, werden. Er hatte am 13. September den Beitrag mit der Überschrift, „Bayerntrend: CSU stürzt weiter ab“, (Siehe Foto) gelesen. Darin war der aktuelle Trend im Verhältnis zum Wahlergebnis 2013 beschrieben und grafisch dargestellt. Verluste oder Gewinne der Parteien waren dabei nur in Prozentpunkten angezeigt. Diese Darstellung und die Überschrift ärgern den Anrufer. Denn er meint, es hätte deutlich aufgezeigt werden müssen, dass die SPD gegenüber der letzten Wahl fast 50 Prozent an Zustimmung verloren habe.
Über ein Feindbild
Dass sich angesichts jahrzehntelanger klarer CSU-Dominanz in Bayern die vorliegende Überschrift als Hauptnachricht aufdrängt, kam bei ihm nicht an, ebenso wenig wie mein vorsichtiger Hinweis, dass er vielleicht ein etwas überkommenes Feindbild pflege.
Meine Einladung, zu einem Gespräch in die Redaktion zu kommen, hat er bislang nicht angenommen.
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Anton Sahlender, Leseranwalt. Siehe auch: www.vdmo.de