Ein Leserbrief, der am 15. Januar veröffentlicht worden ist, hat Proteste ausgelöst. Ich kann das im vorliegenden Fall gut verstehen. Die Kritik einiger Leser zielt auf folgende Passagen daraus, gerichtet gegen eine demokratische politische Partei:
„… eine medial verhätschelte, infantile Verbotspartei, die sich durch Ignoranz und Arroganz auszeichnet <…> Ihr strategisches Staatsziel ist der Umbau Deutschlands und die Zerstörung seiner Geschichte, Kultur und Sprache. Dazu dient unter anderem eine Volk und Nation verderbende vielfältige Einwanderungsgesellschaft mit der Staatsbürgerschaft für alle.“
Leser-Reaktion: "Abstruse Unwahrheiten"
Erstaunlich findet Leser T.L., wohl Mitglied jener Partei, den „gehässigen Ton und die bösartigen Verunglimpfungen“ im zitierten Leserbrief. T.L. weiter: „Mir <…> ist es egal, wie scharf politische Gegner <…> formulieren, mir wäre es nur wichtig, dass diese nicht andauernd teils abstruse Unwahrheiten in die Welt setzen, und unsere Wählerinnen und Wähler beleidigen.“
Auch Lesre M.C. wird deutlich: „Das ist deckungsgleich mit der hetzerischen Kritik von Gauland, Höcke und Co. an der Bundesregierung“. „Unsachlich und beleidigend“ findet Leserin M.S. den Brief. Sie fragt mich: „Wer hat bei Ihnen ein Interesse, dass diese Hetze, als Leserbrief verkleidet, in der Zeitung erscheint?“
Meinungen, welche die Redaktion nicht teilt
Interesse an Hetze hat in der Redaktion natürlich niemand. Klar ist aber immer, dass Leserbriefe nicht die Meinung der Redaktion wiedergeben. In deren Leitlinien steht aber auch: „Es dient der wahrhaftigen Unterrichtung der Öffentlichkeit, in Leserbriefen auch Meinungen zu Wort kommen zu lassen, die die Redaktion nicht teilt.“
Sind aber in jenem Leserbrief Unwahrheiten veröffentlicht worden, wie es Leser T.L. feststellt? Nein, nicht wirklich. Die Behauptung, dass jene Partei, die gemeint ist, als strategisches Ziel den beschriebenen Umbau des Landes verfolgt, Zerstörung von Geschichte, Kultur und Sprache, mag man als falsch empfinden. Aber sie ist reine Interpretation (vielleicht von Parteiprogramm oder Reden). Die Behauptung ist als solche rechtlich nicht als falsche Tatsache (die nicht veröffentlicht worden wäre) zu bewerten, sondern hier als Meinung des Absenders. Das dürfte auch Durchschnittsleser*innen klar gewesen sein, auf die es bei juristischen Bewertungen meist ankommt.
Meinungsspektrum erkennen lassen
Im Rahmen der Meinungsfreiheit bedarf es stets auch der verantwortungsvollen redaktionellen Abwägung darüber, ob Zuschriften mit eher boshaften oder polemischen Feststellungen, vielleicht sogar mit Verschwörungstheorien, für die keine Grundlagen erkennbar sind, verbreitet werden. Für deren Veröffentlichung kann der Versuch sprechen, erkennen zu lassen, dass es im Meinungsspektrum auch solche Bewertungen gibt. Im Umgang damit muss man dann auf die Mündigkeit der Leserschaft zu setzen.
Diese Mündigkeit räume auch ich ein. Ob aber die Verbreitung derartiger Behauptungen notwendig ist, darf im Sinne eines funktionierenden demokratischen Diskurses bezweifelt werden. Den werden sie eher stören. Die Partei aus dem Leserbrief wird hier übrigens bewusst nicht genannt. Diese Zeilen sollen der redaktionellen Bewertung von Leserstimmen gelten.
Politischer Meinungskampf
Anton Sahlender, Leseranwalt
Siehe auch Vereinigung der Medien-Ombudsleute.
Frühere ähnliche Leseranwalt-Kolumnen:
2017: "Der Meinungskampf erlaubt abwertende Vorwürfe"
2017: "Eine Meinung ist nicht mit Beweismitteln auf Richtigkeit zu überprüfen"
2019: "Dass Missverständnis mit der Zensur"
2019: "Falsche Tatsache im Leserbrief"
2021: "Aufpassen, wenn Wut die Feder geführt hat"
Anton Sahlender, Leseranwalt
Aber schon als ich las "...medial verhätschelte, infantile Verbotspartei..." wußte ich schon, welche gemeint ist