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LESERANWALT
Leseranwalt: Aufpassen, wenn Wut die Feder geführt hat
Was, wenn eine Verwandte in einer Senioreneinrichtung an Covid-19 erkrankte und ein Leserbrief-Schreiber deshalb schwere Vorwürfe gegen die Leitung erhebt? Was drohen kann.
Schwere Vorwürfe gegen die Leitung einer Senioreneinrichtung, weil eine Angehörige dort gegen Covid-19 erkrankte? Beschuldigungen können nicht einfach als Leserbrief veröffentlicht werden.
Foto: Symbolfoto Tom Weller, dpa | Schwere Vorwürfe gegen die Leitung einer Senioreneinrichtung, weil eine Angehörige dort gegen Covid-19 erkrankte? Beschuldigungen können nicht einfach als Leserbrief veröffentlicht werden.
Bearbeitet von Anton Sahlender
 |  aktualisiert: 27.04.2023 10:37 Uhr

Es passiert leicht, dass Kummer oder gar Wut den Angehörigen von Menschen, die an Covid-19 erkrankt sind, die Feder führt. Mich erreichte die Mail eines Lesers, in der er seine Wut zum Ausdruck bringt. Der von ihm namentlich genannten Leitung einer Senioreneinrichtung, in der eine Verwandte von ihm erkrankt war, wirft er schwere Versäumnisse und Inkompetenz vor. Das gipfelt in seiner Frage: „Wie viele Menschen mussten sterben, weil diese Person ihre Arbeit nicht gemacht hat?“

Die Behauptung in der Frage

In der Frage steckt die Behauptung, dass sich die genannte Person einer so schwerwiegenden Pflichtverletzung schuldig gemacht habe, dass diese zum Tod von Menschen führen konnte. Der Bezug auf Todesfälle gibt dem Vorwurf eine schlimme Bedeutung mit. Der Leser zählt Maßnahmen auf, die aus seiner Sicht versäumt wurden.

Bei einer Veröffentlichung der anklagenden Zuschrift als Leserbrief kann sich die darin beschuldigte Person in ihren Persönlichkeitsrechten verletzt, im schlimmsten Fall verleumdet sehen. Sie könnte deshalb den Rechtsweg beschreiten, vor allem dann, wenn die Beschuldigungen nicht nachzuweisen sind. Der Absender kann zumindest kostenpflichtig auf Unterlassung in Anspruch genommen und möglicherweise wegen Verleumdung angezeigt und zu Schadensersatz verurteilt werden.

Freiwilliger Verzicht auf Leserbrief

Auf diese mögliche Folge habe ich den Absender hingewiesen. Daraufhin verzichtete er selbst auf den Leserbrief, der wohl auch von der Redaktion nicht veröffentlicht worden wäre. Was aber, wenn doch? Hätte die Redaktion dann ebenfalls gehaftet, obwohl man durchaus ein öffentliches Interesse an den Vorwürfen gegen die Leitung einer Senioreneinrichtung sehen kann? Dazu muss man wissen, dass dieses Informationsinteresse bei Gerüchten, beleidigenden beziehungsweise kreditschädigenden Äußerungen oder Schmähkritik entfällt. Das gilt gleichermaßen für Leserbriefe, obwohl die darin vertretenen Meinungen grundsätzlich als die des Absenders gelten (siehe Handbuch des Presserechts Ricker/Weberling, Kap.41/17a).

In diesem Fall würde es aber in dem Leserbrief nicht mehr nur um Meinung, sondern um eine Tatsachenbehauptung gehen. Eine Person oder Institution wird ohne ausreichenden Beweis unübersehbar schwer beschuldigt. Dafür reicht allein die Stellung als Leserbrief als redaktionelle Distanzierung nicht mehr aus. Den unbewiesenen schweren Vorwurf muss die Redaktion erkennen. Er liegt nicht unterhalb ihrer Wahrnehmungsschwelle. Die Verbreiterhaftung könnte eintreten.

Verpflichtung der Redaktion, selbst zu recherchieren

„Wäre", "hätte" und "würde“ dürfen für Journalisten kein "Ist"-Zustand bleiben. Wenn für eine Redaktion eine Veröffentlichung belastender Äußerungen, die von öffentlichem Interesse sind, wegen fehlender Nachweise nicht möglich ist, erwächst ihr daraus die journalistische Verpflichtung, selbst zu recherchieren. Das heißt, dass es nie umsonst sein sollte, Redaktionen auch auf unbewiesene Unregelmäßigkeiten hinzuweisen, die von öffentlichem Interesse sein können. Nicht nur die Überprüfung liegt danach in journalistischer Verantwortung, sondern auch der Schutz der Informanten.

Erfreuliches zum Schluss: Der zitierte Leser hat mir mitgeteilt, dass seine in der Senioreneinrichtung erkrankte Verwandte wieder gesund geworden ist.

Anton Sahlender Leseranwalt

Siehe auch Vereinigung der Medien-Ombudsleute.

Ähnliche Leseranwalt-Kolumnen:

2017: "Eine Meinung ist nicht mit Beweismitteln auf ihre Richtigkeit zu überprüfen"

2019: "Niemand muss anonym informieren"

2019: "Falsche Tatsache im Leserbrief"

 
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