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Leseranwalt: Der Begriff "Nachhaltigkeit" darf in Medien nicht zum strapazierten "Prädikat" für alles werden
"Nachhaltigkeit" ist allgegenwärtiger Begriff in Berichten geworden - das zeigen viele Beispiele. Warum Medien-Ethiker vom Journalismus größtmögliche Klarheit erwarten.
Verpackungsmüll aus Kunststoff in einer Sortieranlage: Auch ein Fall von Nachhaltigkeit? Leseranwalt Anton Sahlender fordert einen klaren Umgang, mit dem Modebegriff 'Nachhaltigkeit'. 
Foto: Bernd Thissen, dpa | Verpackungsmüll aus Kunststoff in einer Sortieranlage: Auch ein Fall von Nachhaltigkeit? Leseranwalt Anton Sahlender fordert einen klaren Umgang, mit dem Modebegriff "Nachhaltigkeit". 
Anton Sahlender
Anton Sahlender
 |  aktualisiert: 15.07.2024 19:34 Uhr

Nachhaltig sein, wer will das nicht? Der einstige Alltagsbegriff steht hoch im Kurs. Seine umfassende Bedeutung ist schier unendlich und bedeutungsschwer in die Zukunft gewachsen. Das zeigen diverse Wörterbücher, darunter seit 2001 ein "Lexikon der Nachhaltigkeit". Unklarheiten aber, die bleiben.

Nehmen wir die Zeitung. "Nachhaltig heiraten: Eine zweite Chance für Brautkleider" lautete in der Ausgabe vom 8. April die Überschrift in einem Lokalteil der Main-Post. Zwei Frauen wollen verhindern, dass die festlichen Kleidungsstücke nach einmal Tragen im Schrank verstauben. Der Titel des gedruckten Beitrages verzichtet auf das bezeichnende Wort, das dem Artikel über ihre Geschäftsidee in der Online-Version mitgegeben ist: "Secondhand-Brautladen". 

Nur LED-Lampen wären für "Nachhaltigkeit" wohl zu wenig

Was hier "Nachhaltigkeit" will, das ist die Wiederverwertung eines Hochzeitsproduktes. Ein auch für Verbraucher nützlicher, aber im gewaltigen Bedeutungszusammenhang wohl nur ein winziger Schritt. Und bei dem Fachhändler, bei dem laut Überschrift im Lokalteil am 8. April Nachhaltigkeit Vorrang hat, hätte dafür sein Geschäftsfeld "Garten, Tier und Freizeit" nicht ausgereicht. Er musste zur Nachhaltigkeit deutlich mehr anbieten als die LED-Beleuchtung in Verkaufsräumen. Eine Reihe von Maßnahmen aus Sonnenenergie und eigenen Regenwasser-Zisternen kann man gelten lassen.

Agentur zeichnet Zahnarzt aus

Und mehr Artikel finden sich unter dem Stichwort Nachhaltigkeit. Unter der Überschrift "Plastik reduzieren, Quecksilber vermeiden & fairer Kaffee: Das macht eine <...> Zahnarztpraxis in puncto Nachhaltigkeit" erfährt man beispielsweise, warum diese sich nach der Auszeichnung durch eine Berliner Agentur als "nachhaltigste" Praxis Deutschlands bezeichnet.

An anderer Stelle wird erklärt, wie ein Jungunternehmer europäische Regionen zu nachhaltigem Wirtschaften berät. Sogar ein Online-Händler von Kunstblumen, so wird berichtet, hat sich mit ökologischen Verpackungen der Nachhaltigkeit verschrieben. Andererseits zweifelt zumindest ein dpa-Bericht zum Valentinstag die Nachhaltigkeit von Schnittblumen an, die aus dem Süden eingeflogen werden müssen. 

Was hat eine Autobahn mit dem Prädikat "Nachhaltigkeit" zu tun?

Aus "Nachhaltigkeit" ist eine Dimension, eine Sphäre und ein Leitbild für nahezu alles geworden. Ob Politik, Wirtschaft, Konsum, Ernährung, Kosmetik, Recycling, erneuerbare Energien, etc... Das zeigt in Sachen Ernährungskompetenz ein Blick auf die Plattform TikTok: Alle bedienen sich. Es wirkt wie der Tanz um ein Goldenes Kalb. Sogar einer Autobahn in der Schweiz hat eine Zeitung das Prädikat schon mitgegeben. Da kommen berechtigte Zweifel auf. Forscher, die sich ernsthaft mit Nachhaltigkeit beschäftigen, erkennen eine Entwissenschaftlichung. So jedenfalls war das bei einer Tagung des Netzwerks Medienethik zum Thema zu vernehmen.

Größtmögliche Klarheit zur Nachhaltigkeit nötig

Deshalb mahnen Medienethiker gerade für den Journalismus größtmögliche Klarheit zur "Nachhaltigkeit" an. Bei deren Tagung warnte Pädagoge Torsten Schäfer von der Hochschule Darmstadt vor Versuchen, damit "etwas vom dunklen Hinterhof schmackhaft zu machen". Denn "einen gesellschaftlichen Wert" verbindet damit Sigrid Kannengießer, Mediensoziologin an der Uni Münster. Dieser finde sich oft in politischen Strategien und im Marketing. Das heißt für Redaktionen: Wachsam bleiben. Nachhaltigkeit im Sinne von beharrlich nachhaltig recherchieren und konkret werden. Denn echte Nachhaltigkeit brauchen alle Menschen. Sie ist unverzichtbarer Teil der Gesellschaft und der Demokratie.

Wenn es nötig ist: Erklären, was genau gemeint ist

Laut Philosoph Ludwig Wittgenstein (1889-1951) ist Unschärfe zwar Teil der Sprache, aber auch die kontextspezifische Prägung. Daran erinnerte der Medienethiker Hektor Haarkötter von der Hochschule Bonn/Rhein/Sieg. Wenn trotzdem noch nötig, sei eben auch zu erklären, was genau gemeint ist. Zu klären bliebe dann noch, ob das dem Ziel näher bringt. Das kann nur, wer das Ziel kennt, das nicht zum goldenen Kalb werden darf. Damit ist der Punkt erreicht, an dem Journalisten wissenschaftliche Hilfe in Anspruch nehmen können.

Anton Sahlender, Leseranwalt

Siehe auch Vereinigung der Medien-Ombudsleute e.V.

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