Über einen Leserbrief habe ich mich gefreut, weil Herr U.E. am 16. Juli darin etwas aufgezeigt hat, was für Journalisten grundsätzliche Bedeutung haben sollte. Überschrieben mit "Da bleibt einem die Spucke weg", hat sich U.E. zurecht kritisch zur Überschrift einer Meldung auf der Titelseite der Zeitung vom 9. Juli geäußert. Sie lautete: "Nachbarländer sehen mehr Extremismus in Deutschland".
In der Meldung heißt es, dass die Sorge um Rassismus zunehmend den Blick von außen auf Deutschland präge. Zu diesem Ergebnis sei eine Studie des Goethe-Instituts, der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit und des Deutschen Akademischen Austauschdienstes gekommen. Basis dafür seien eine Online-Befragung von 622 Personen aus 37 Ländern sowie weiterführende Interviews mit 48 Befragten in 24 Ländern gewesen.
"Ab in den Papierkorb" mit der Meldung
Da bleibe einem empirisch arbeitenden Wissenschaftler die Spucke weg, kommentiert das U.E., wohl weil er selbst empirisch tätig ist. Er hat gerechnet und kam aufgrund der in der Meldung genannten Zahlen zu dem Ergebnis, dass die drei Institutionen pro Land durchschnittlich knapp 17 Personen aus 37 Ländern online befragt und je zwei Personen in 24 Ländern interviewt hätten. U.E. fordert deshalb: "Ab in den Papierkorb mit solchen Untersuchungen und populistischen Meldungen!"
Als Anwalt für den Leser U.E. könnte ich sein Schreiben mitunterzeichnet haben, weil die genannte Studie einfach zu dünn ist für die generelle Aussage der Überschrift. Letztere taugt bestenfalls als Meinungsäußerung. Nun ist mir der Leser mit seiner Kritik zuvorgekommen.
Entscheidende Kennzahlen sind wichtig
Mir ist es dabei wichtig, grundsätzlich auf gerne und vorschnell in Medien verbreitete Studien oder Statistiken hinzuweisen, denen zuweilen Basisangaben fehlen oder die nicht gedeckte Wertungen enthalten. Zumindest war es im vorliegenden Fall der Extremismus-Studie möglich, sie richtig einzuordnen, so wie es Herr U.E. getan hat. Entscheidende Kennzahlen waren mitgeliefert, was leider nicht immer der Fall ist.
Lehren aus eigenen kritischen Beiträgen
So manches Mal wünsche ich mir, dass im Journalismus mehr wissenschaftlicher Geist einkehren möge, gerade im Hinblick auf die Nennung der Herkunft von Quellen, der nüchternen Erklärung von Ergebnissen oder Zahlen. Mehr Klarheit würde oft guttun. Journalisten könnten dabei aus eigenen kritischen Beiträgen zu Plagiaten oder fehlenden Quellenangaben in Werken von Politikern selbst Lehren ziehen. Das zahlt ein auf den Faktor Glaubwürdigkeit. Damit kein Missverständnis entsteht: Von einem Plagiat war hier nicht die Rede, lediglich von einer zu weit gehenden Bewertung.
Unterscheidung von unseriösen Absendern
An dem vom Leser U.E. aufgezeigten Beispiel lässt sich erklären, dass es gut ist, journalistisch möglichst viel über Studien oder Statistiken preiszugeben. Weitgehende Klarheit kann dazu beitragen, die Kompetenz in der Leserschaft zu erhöhen. Das kann sie in die Lage versetzen, unseriöse Absender, die vorwiegend intermediär auftreten, besser von den seriösen zu unterschieden. Denn darauf kommt es mehr denn je an.
Anton Sahlender, Leseranwalt
Siehe auch Vereinigung der Medien-Ombudsleute.
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