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Würzburg
Kommentar zu Corona: Wir nehmen das Virus viel zu persönlich!
Es ist wie mit dem Wetter: Spielt es nicht mit, nehmen wir ihm das übel. Unser Autor glaubt, dass es das Wetter ebenso wenig böse meint wie das Virus. Gekränkt sind wir trotzdem.
Eine Kränkung ist laut Lexikon die Verletzung eines Menschen in seiner Ehre, seinen Werten, seinen Gefühlen und seiner Selbstachtung. Unser Autor meint, dass das Virus genau das mit uns macht.
Foto: Getty Images | Eine Kränkung ist laut Lexikon die Verletzung eines Menschen in seiner Ehre, seinen Werten, seinen Gefühlen und seiner Selbstachtung. Unser Autor meint, dass das Virus genau das mit uns macht.
Mathias Wiedemann
 |  aktualisiert: 08.02.2024 11:00 Uhr

"Die Leute sollen mal aufhören, immer gleich alles schlecht zu reden", ruft der Kollege in der telefonischen Redaktionskonferenz, "es ist für uns alle die erste Pandemie." Es geht – natürlich – um irgendwas mit Corona. Eine neue Maßnahme, eine ministerielle Panne, neue Zahlen, alte Probleme. Der Kollege, bekanntermaßen kein unkritischer Ja-Sager, wirbt bei aller journalistischer Distanz für ein wenig mehr Verständnis für die Probleme von Behörden und Institutionen. 

Ja, es ist für uns alle die erste Pandemie. Aber es fühlt sich inzwischen an wie die fünfte oder sechste. Wenn das so weitergeht, wird das (Un-)Wort des Jahres 2021 keine Überraschung sein: Pandemiemüdigkeit. Es reicht. Hatte der erste Lockdown immerhin noch die Verheißung einer neuen Art von Miteinander, so ist jetzt langsam die Luft raus. Es nerven die scheibchenweise verordneten Verlängerungen und Verschärfungen des Lockdowns. Es nervt das Impfdebakel. Es nervt der Mangel an Perspektive.

Aber warum nehmen wir all das so persönlich? Es scheint, als wären wir in letzter Zeit nicht nur deutlich reizbarer, sondern vor allem dauernd gekränkt. Warum eigentlich? Es geht hier ausdrücklich nicht um all die, die wegen der Maßnahmen um ihre wirtschaftliche Existenz fürchten müssen. Deren Kränkung ist nur allzu nachvollziehbar. Aber warum kränkt es uns andere so, wenn jemand anderer Meinung ist als wir? Warum überschütten wir einander in den sozialen Medien dauernd mit Kränkungen?

Die Kränkung als Grundmotiv unseres Daseins. Wie sich zeigt, macht Corona das nicht besser.

Eine Kränkung, so das Lexikon, ist die Verletzung eines Menschen in seiner Ehre, seinen Werten, seinen Gefühlen und besonders seiner Selbstachtung. Eine beliebte These ist, dass der Tod die ultimative Kränkung des Menschen sei. Weil er erfahren muss, dass die Welt auch ohne ihn weiterexistieren wird. Dass die Welt ihn nicht braucht. Die Kränkung wäre demnach ein Grundmotiv unseres Daseins. Und wie sich zeigt, macht Corona das nicht besser. 

Seit Sigmund Freud kennt die Psychologie den Begriff der "narzisstischen Kränkung". Das interessante daran: Diese Kränkung kann kollektiv sein. Es können sich Gruppen und sogar Staaten als Ganzes gekränkt fühlen, wenn ihr Selbstwertgefühl erschüttert wird. Laut Freud fand eine solche kollektive Kränkung, ja, eine "Kränkung der Menschheit" statt, als Charles Darwin herausfand, dass Mensch und Tier enge Verwandte sind.

Gastronomie und Geschäfte zu – auch das ist inzwischen Alltag im Lockdown. In Würzburg zeigte ein Inhaber mit dem Banner 'Bauernopfer Gastronomie' sein Unverständnis über diese Maßnahmen.
Foto: Heiko Becker | Gastronomie und Geschäfte zu – auch das ist inzwischen Alltag im Lockdown. In Würzburg zeigte ein Inhaber mit dem Banner "Bauernopfer Gastronomie" sein Unverständnis über diese Maßnahmen.

Man könnte vereinfacht sagen: Wann immer etwas nicht so läuft, wie erwartet, fühlen wir uns gekränkt. Paradebeispiel ist das Wetter. Wir erwarten vom "Wettergott", dass er "mitspielt". Tut er das nicht, ist er ein Spielverderber, der es mit uns ganz persönlich nicht gut meint, obwohl wir ihm doch nichts getan haben. (Was wiederum zu diskutieren wäre – siehe Klimawandel – aber das ist hier jetzt nicht das Thema.)

Karl Valentin hat eine wahrhaft weise Formel gefunden, um der Kränkung durch schlechtes Wetter zu entgehen: "Ich freue mich, wenn es regnet, denn wenn ich mich nicht freue, regnet es auch."

Karl Valentin hat wie immer Recht: Es bringt uns nicht weiter, Corona persönlich zu nehmen.

Zugegeben: Bei Corona besteht nun wirklich kein Grund zur Freude. Aber im Kern hat Karl Valentin auch hier Recht: Es bringt uns nicht weiter, Corona persönlich zu nehmen. Wir tun es trotzdem. Weil das Virus unser Selbstverständnis als Gemeinwesen in Frage stellt. Weil es zwei Tugenden von uns verlangt, die in einer singularisierten, entsolidarisierten Machbarkeitsgesellschaft nicht mehr vorgesehen sind: Geduld und Rücksichtnahme. Wie das so ist, wenn man außer Übung ist: Beides fällt ungeheuer schwer.

Seit der Aufklärung sehen wir unseren Planeten immer mehr als beherrschbare, notfalls auch reparierbare Spielwiese. Gleiches gilt für uns selbst: Funktionieren unser Körper oder unser Geist nicht, wie verlangt, gibt es Therapien, Medikamente, Operationen und sogar Ersatzteile.

Das ist gut und richtig. Ins Schleudern geraten wir nur, sobald das eben nicht ohne weiteres funktioniert. Plötzlich ist da dieses Virus, dass uns zur Untätigkeit verdammt. Sofern wir keine Forscher und kein medizinisches Personal sind, wohlgemerkt. Die arbeiten bis zum Umfallen, was wir gerne auch mal übersehen, wenn wir uns unserer ganz persönlichen Corona-Kränkung hingeben.

Ein Recht auf Zuspruch und Anteilnahme sollte in einer Gesellschaft immer gelten

Eine der verlässlichsten Konstanten scheint außerdem zu sein, dass es immer Leute gibt, die sich selbst zu Leidtragenden ausrufen, sobald sie aufgefordert werden, ausnahmsweise mal Rücksicht zu nehmen. Anders gesagt: sobald sie in der Ausübung ihres Egoismus behindert werden.

Dass die Verpflichtung zum Tragen einer Mund-Nasen-Maske in bestimmten Kreisen auf derart wütende Gegenwehr stößt, gar zu einem Akt willkürlicher staatlicher Gewalt stilisiert wird, sagt einiges über die Kränkungstoleranz mancher Leute aus. Oder eher über deren Gekränktheitswunsch. Denn wer gekränkt ist, glaubt immer auch, ein Recht auf Zuspruch und Anteilnahme zu haben. Aber dieses Recht sollte in einer wertschätzenden Gesellschaft sowieso immer gelten. Dazu müssten wir uns aufraffen, auch mal anderen gelegentlich Zuspruch und Anteilnahme zu gewähren. Egal, ob da ein Virus ist - oder ob es gerade regnet.

 
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Kommentare
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  • lendres
    Häufig erwarten die Gekränkten zwar Zuspruch und Anteilnahme,
    sind aber weder willens noch bereit dies denen zuzubilligen, die sie
    selbst gekränkt haben.
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  • mail@udoalbrecht.de
    Perfekt auf den Punkt gebracht!
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