Es gibt dieses Spiel, das Kinder spielen, wenn ihnen daheim in der Wohnung langweilig ist: Man klettert von Möbel zu Möbel, wer den Boden berührt, ist tot. Es ist ein Spiel mit einer eingebildeten Gefahr. Manchmal fühlt sich Corona so an. Und manchmal sieht Corona auch so aus. Zum Beispiel auf dem Wochenmarkt. Oder auf dem Gehsteig vor dem Bäcker.
Bei dieser Bäckerfiliale dürfen immer nur zwei Kunden gleichzeitig in den Laden, also stehen die Wartenden draußen. Manche mit Abstand, manche ohne. Das führt dann zu sonderbaren Rochaden, die anmuten wie ein Tanz nach geheimnisvollen Regeln. Die einen treten zurück oder beiseite, sobald die anderen zu nah aufschließen. Als wichen sie einem eingebildeten Gegner aus. Auf jeden Fall aber einem unsichtbaren.
Dabei weichen sie einem sehr realen Gegner aus. Unsichtbar, aber real – ganz abgesehen davon, dass sie sich an Regeln halten, die auch und gerade bei fortschreitenden Lockerungen gelten. Inzwischen gibt es wieder Außengastronomie, die Baumärkte sind offen, sogar die Museen. Wir dürfen wieder Familie und Freunde besuchen – immer nur ein Haushalt einen anderen, aber immerhin. Ein Kollege wird demnächst seinen Hochzeitstag im Biergarten feiern – nur bis 20 Uhr, aber immerhin.
Die Indizien von Normalität stehen in kuriosem Widerspruch zu den Mahnungen der Virologen
Die Fußgängerzonen sind nicht mehr leergefegt, und auf dem morgendlichen Weg zur Arbeit kann es auf den Einfallstraßen in die Stadt schon mal einen ordentlichen Stau geben. Der ist dann jedenfalls erheblich deutlicher wahrnehmbar als dieses komische Virus.
Diese (möglicherweise trügerischen) Indizien von Normalität stehen in kuriosem Widerspruch zu den weiterhin eindringlichen Mahnungen der Virologen und nicht zuletzt auch den Hiobsbotschaften aus Ländern wie Brasilien oder den USA. Es entsteht eine sonderbare Spannung, die mit jeder weiteren Lockerung nicht etwa sinkt, sondern eher noch steigt.
Eine Spannung zwischen Vernunft ("Achtung, das kann alles nochmal kippen!") und Gefühl ("Was soll jetzt noch groß passieren?"). Eine Spannung zwischen Sorgfalt und Spontaneität, für manche gar eine zwischen Mut und Furchtsamkeit. Ein Bekannter erzählt, im Betrieb sei ihm das Tragen der Maske untersagt worden – das sehe komisch aus und mache den anderen Angst, so der Vorgesetzte. Für diesen Bekannten, der übrigens eine der berühmten Vorerkrankungen vorzuweisen hat, ergibt sich also noch eine weitere Spannung: die zwischen Loyalität und Selbstschutz (und dem Schutz anderer). Überspitzt gesagt, zwischen Gehorsam und Überleben.
Man kann Corona auch zum Freundschaftstest machen. So hat jüngst ein wiederum anderer Bekannter im Zorn geschworen, nie wieder das Haus von Freunden zu betreten. Und das kam so: Die Freunde hatten ihn gebeten, ihrem Heim zur Sicherheit doch bitte auch nach der Lockerung des Verbots und bis Ende der Pandemie fernzubleiben, weil er draußen so viel mit anderen Menschen in Kontakt komme. Könnt ihr haben, grollte der Bekannte, dann komme ich eben nie mehr wieder.
Vielleicht lernen wir ja doch noch, Rücksicht aufeinander zu nehmen
Vor vielen, vielen Wochen, als die Verbote noch keine Verbote waren, sondern "dringende Empfehlungen" seitens der Staatsregierung, hatte Ministerpräsident Markus Söder Corona als Charaktertest bezeichnet. Als dann doch die Verbote kamen, nannte er diese eine "Hilfestellung" für genau diejenigen, die sich mit diesem Charaktertest "schwer tun".
Und: Corona ist auch so etwas wie ein kollektiver Intelligenztest. Denn wer den Sinn von Regeln begreift, tut sich leichter, sie zu befolgen. Und es sind für gewöhnlich auch eher intelligente Menschen, die fähig sind, die eigene Person von außen zu betrachten. Und dabei zu erkennen, dass es eben nicht nur darum geht, sich selbst zu schützen, sondern auch andere. Weil man sich zwar bombig fühlen kann, möglicherweise aber trotzdem eine Virenschleuder ist.
Glücklicherweise haben die Rücksichtslosigkeiten all derer, die bis heute weder den Charakter- noch den Intelligenztest bestanden haben, nicht verhindern können, dass wir allmählich eben doch in Richtung Normalität unterwegs sind, siehe Biergärten, siehe Museen, siehe Staus.
Nur: Welche Normalität wird das sein, wenn wir angekommen sind? Wird es normal werden, dass wir beim Verlassen der Wohnung genauso routiniert zur Maske greifen wie zum Schlüsselbund? Wird es normal werden, dass wir große Bögen umeinander machen?
Susan Vahabzadeh, Filmkritikerin der "Süddeutschen Zeitung", hat schon vor Wochen diagnostiziert, wie sehr das Virus unsere Sehgewohnheiten verändert hat: "In Zeiten von Corona wirken ganz normale Kinoszenen plötzlich wie aus einem Horrorfilm und Menschen, die sich küssen und drängeln, lösen Unbehagen aus." Auf den profanen Alltag angewendet, hieße das: Wie lange noch werden wir panisch nach Fluchtwegen Ausschau halten, sobald jemand auch nur hüstelt?
Wird es normal werden, dass die Behörden sich immer neue Regelungen ausdenken (müssen), um eine weitere Verbreitung zu verhindern? So sehr sich viele eine Rückkehr in Vor-Corona-Zeiten wünschen – vielleicht lernen wir ja doch noch, aufeinander Rücksicht zu nehmen. Normal wäre das allerdings nicht.