
Sehr geehrter Herr Professor Pauli,
wir müssen reden. Oder besser: Wir dürfen reden!
Wir beiden haben uns noch nie persönlich getroffen, und dennoch habe ich in den vergangenen Tagen viel über Sie und Ihre Hochschule nachgedacht. Denn die Julius-Maximilians-Universität ist jetzt in Zusammenhang mit einem Begriff aufgetaucht, den Sie so sicher nicht gerne in den Mund nehmen: Cancel Culture.
Der Psychoanalytiker Bernd Ahrbeck war eingeladen, im Juli an der Uni einen Vortrag zu halten. Ein Wissenschaftler, der als Kritiker einer allzu freien geschlechtlichen Selbstbestimmung nicht unumstritten ist. Es gibt sicher gute Argumente gegen seine Theorien, doch darum geht es hier nicht. Denn zu einem öffentlichen Austausch von Argumenten kam es in diesem Fall gar nicht.
Die Ankündigung des geplanten Vortrags sorgte unter Ihren Studentinnen und Studenten für Wirbel. Beschmierte Plakate, aufgebrachte Stimmung in den sozialen Netzwerken und Boykott-Forderungen in E-Mails folgten. Ahrbeck reagierte - und sagte seinen öffentlichen Vortrag ab.
Wir müssen lernen, offen und respektvoll über kontroverse Themen zu diskutieren
Warum ich Ihnen deshalb einen Brief schreibe? Meine Zeit an Ihrer Universität liegt schon ein paar Jahre zurück. Aber ich erinnere mich noch gut an die Debattierrunden, die zum Studium der Politik und Soziologie dazugehörten. Es gab ein Thema, man zog eine vorgegebene Meinung - und los ging's. Das Ziel: Finde starke Argumente und verteidige diese.

Zu strittigen Themen haben wir Grenzen ausgelotet, Fakten gesammelt, Meinungen ausgehalten, uns auf- und wieder abgeregt. Es war lebendig, nicht immer einfach, oft unbequem und anstrengend. Manchmal kaum ertragbar.
Was Ihre Kolleginnen und Kollegen an der Uni uns damit vermitteln wollten, wurde mir im Laufe meines Berufslebens immer wieder bewusst. Die Fähigkeit, offen und respektvoll über kontroverse Themen zu diskutieren, ist ein wichtiger Bestandteil der Demokratie. Viele Veränderungen in unserer Gesellschaft sind nur dadurch möglich geworden, dass es einen offenen Diskurs gab.
Was einem selbst wichtig ist, sollte nicht das Einzige sein, das existieren darf
Herr Pauli, ich finde es unglaublich wichtig, dass sich Studentinnen und Studenten lautstark einbringen. Schwierig wird es nur, wenn das, was einem selbst wichtig ist, zu dem Einzigen wird, das existieren darf.

Zu Ihren Zielen gefragt, sagten Sie zu Beginn Ihrer Amtszeit als Unipräsident vor zwei Jahren: "Austausch und Dialog fördern - das möchte ich gerne für die gesamte Universität voranbringen." Ihr Spezialgebiet, die Psychologie, könne Ihnen dabei helfen, denn diese sei "eine Art Scharnier zwischen Natur- und Geisteswissenschaften".
Ein Scharnier, eine bewegliche Verbindung, eine Brücke. Dem gegenüber steht dieses Wort, das mittlerweile fast schon Kultstatus erreicht hat und eben jetzt in Zusammenhang mit dem Vorgang an Ihrer Universität verwendet wird: Cancel Culture. Der englische Begriff beschreibt das Bestreben, (vermeintliches) Fehlverhalten öffentlich zu ächten. Es wird keine Diskussion mit der betreffenden Person gesucht, sondern zu einem generellen Boykott aufgerufen.
Zurückgezogene Vorträge an Hochschulen gibt es immer wieder
Zurückgezogene Vorträge an deutschen Hochschulen waren in letzter Zeit immer wieder Gegenstand der Berichterstattung. Zuletzt sorgte die Uni Erlangen mit ihrer Ein- und anschließenden Ausladung des Althistorikers Egon Flaig für Diskussionen. Lautstarke Kritik musste auch die Humboldt-Universität Berlin einstecken, nachdem sie den Vortrag von Doktorandin Marie-Luise Vollbrecht zum biologischen Geschlecht aus Sicherheitsgründen gestrichen hatte.
Nein, Herr Pauli, Sie haben in Würzburg niemanden gecancelt. In Ihrem Fall hat der Redner selbst zurückgezogen. Doch was bleibt, ist ein fader Beigeschmack.

In Ihrem Format "Präsidenten-Podcast" betonen Sie die Bedeutung einer konstruktiven Kommunikationskultur. Und zu dem aktuellen Fall sagen Sie, dass man an der Uni die Grenzen für Meinungs- und Positionsvielfalt sehr weit ziehen müsse.
Dem kann ich nur zustimmen und erweitern: Der Appell zum kritischen Diskurs gilt auch für die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Wer sich mit provokanten Thesen aus dem Fenster lehnt, sollte sich anschließend auch der öffentlichen Diskussion stellen.
Es gibt rote Linien - doch eine respektvolle Debatte muss immer möglich sein
Natürlich gibt es rote Linien. Für jeden und jede für uns. Im Grundgesetz heißt es in Artikel 5, Absatz 3: "Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei. Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung."
Herr Pauli, nutzen Sie diese Freiheit weiterhin, um den offenen Diskurs zu verteidigen und zu fördern. Denn Verbote und Absagen sollten immer nur das allerletzte Mittel sein.
Mit freundlichen Grüßen,
Meike Schmid, Redakteurin
Hier wurde von der Uni nicht gecancelt oder eingeknickt. Der Vortragende hat zurückgezogen. Über den Ton der Kritik kann man streiten, aber dieses Zurückziehen, eben selbst keinen Diskurs suchen und dann über cancel culture schreien, wird in dieser Ecke zur Mode.
Nur durch einen klaren Standpunkt hilft man eine Schweigespirale zu vermeiden, die dazu führen würde, dass sich die Minderheit zur Mehrheit erklärt und das dann als Demokratie bezeichnet.
Nur ein offener und von menschlichem Anstand (auch der nicht geteilten Meinung des Anderen gegenüber) geprägter Diskurs bringt Wissenschaft und Gesellschaft weiter.