"Oscars Kleid" heißt ein Film über ein neunjähriges Transgenderkind, der zurzeit in den Kinos das Thema Transidentität für ein Mainstream-Publikum erzählt. Auch die YouTuberin Jolina Mennen spricht gerade im Dschungelcamp offen über ihre Transsexualität. Scheinbar immer mehr junge Menschen nehmen das Geschlecht, das ihnen bei der Geburt aufgrund äußerlicher Merkmale zugewiesen wurde, im Widerspruch zu dem wahr, was sie als ihre eigenen geschlechtliche Identität empfinden. Mädchen fühlen sich nicht als Mädchen und Jungen nicht als Jungen.
Es geht um um Identifikation und nicht um Sexualität
Transgender ist ein Oberbegriff für Menschen, die sich nicht mit dem ihnen bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht identifizieren. Häufig spricht man auch von Transidentität, dabei wird betont, dass es um Identifikation und nicht um Sexualität geht. Aber gibt es wirklich immer mehr Kinder und Jugendliche, die transgender sind? Nachgefragt bei Professor Marcel Romanos, Klinikdirektor der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Würzburg.
Marcel Romanos: Was wir sicher sagen können, ist, dass es Kinder gibt, die schon sehr früh wahrnehmen, dass sie im falschen Körper geboren wurden. Man nennt dies "Genderdysphorie", also die Unzufriedenheit mit dem biologischen Geschlecht. Transidentität ist also keine Erfindung, sondern ein Schicksal, das sich niemand aussuchen kann. Die betroffenen Kinder leiden psychisch sehr stark darunter und entwickeln vielfach Folgeprobleme. Auch die Suizidgefahr ist bei diesen Kindern extrem hoch. Wie viele Kinder und Jugendliche das betrifft, darüber haben wir noch wenige verlässliche Daten. Erst mit der gesellschaftlichen Öffnung trauen sich mehr Kinder und Jugendliche, dieses Thema überhaupt anzusprechen.
Romanos: Man muss unterscheiden: Es gibt sicher mehr Jugendliche, die äußern, dass sie sich weder dem einen, noch dem anderen Geschlecht fix zugehörig fühlen und die Gendergrenzen generell in Frage stellen. Dies berichten nicht nur Eltern, sondern auch Lehrerinnen und Lehrer, Therapeutinnen und Therapeuten. Doch von einem Hype würde ich nicht sprechen. Ich würde es als gesellschaftliche Entwicklung beschreiben, die nicht erst gestern begonnen hat, und die immer sichtbarer wird. Mit Begriffen wie "Hype" oder "Mode" werden die Probleme derjenigen Kinder bagatellisiert, die unter ihrer Situation massiv leiden.
Romanos: Wir behandeln etwa zehn bis 15 Jugendliche pro Jahr mit der Problematik stationär und ambulant etwa ebenso viele. Es geht also um eine sehr kleine Gruppe. Wir versorgen insgesamt im Jahr ambulant etwa 2000 Kinder und Jugendliche und stationär deutlich über 1000 Kinder und Jugendliche. Es ist aber in der Regel nicht der primäre Grund, warum diese Kinder zu uns kommen.
Romanos: Genderdysphorie äußert sich oft bereits im Kindesalter beispielsweise darin, dass die Kinder die Wahrnehmung äußern, dass sie in dem Körper, in dem sie geboren wurden, falsch sind, und den überdauernden Wunsch verspüren, dem anderen Geschlecht anzugehören. Manche Betroffene setzen sich auch erst im Jugend- oder Erwachsenenalter damit auseinander.
Romanos: Die Mehrzahl der Kinder und Jugendlichen, für die die Genderzugehörigkeit ein Thema ist, wünscht sich keine oder keine überdauernde körperliche Veränderung. Manchmal sind auch psychische Erkrankungen wie Ängste, Depressionen oder autistische Erkrankungen ursächlich mit einer Unzufriedenheit in einer bestimmten Geschlechterrolle. Dann kann das ein reaktives Phänomen sein, das sich ändern kann. Diejenigen, die eine stabile Genderdysphorie aufweisen, schämen sich oft für ihren Körper, gehen zum Beispiel nicht ins Schwimmbad oder meiden den Sportunterricht. Aber nur bei einem Teil der jungen Menschen mit Genderdysphorie ist der Wunsch nach einer körperlichen Geschlechtsangleichung stark ausgeprägt.
Romanos: Genderdysphorie per se ist nicht als Erkrankung definiert. Manche vergleichen es mit Homosexualität, wobei alle Vergleiche etwas hinken. Die Ärztinnen und Ärzte treffen keine Entscheidung, die treffen die Jugendlichen mit den Sorgeberechtigten gemeinsam. Die Therapeuten entscheiden, ob sie den Weg, den die Familie wünscht, mitgehen und verantworten können. Die Situation ist zweifellos kompliziert und muss sehr sorgfältig abgewogen und begleitet werden.
Romanos: Diese Frage sorgt für viele hitzige Diskussionen. Die Pubertätsblockade kann verhindern, dass sich die körperlichen Merkmale des als falsch wahrgenommenen Geschlechts ausbilden. Der diagnostische Prozess muss aber auf jeden Fall mit einer fachlichen Begleitung einhergehen. Und das ist ein langer Weg. Das Grunddilemma besteht in folgenden Fragen: "Welchen Schaden kann eine Geschlechtsumwandlung anrichten?" gegenüber "Welchen Schaden kann es anrichten, wenn keine Umwandlung erfolgt." Jede Entscheidung hat langfristige Folgen für die Kinder und Jugendlichen. Insofern muss der beratende Therapeut oder die Therapeutin, der Jugendliche und die Familie alle Aspekte sorgfältig abwägen, um vorschnelle Entscheidungen, die später bereut werden, zu vermeiden.
Romanos: In Deutschland sind Operationen am Geschlechtsteil vor dem 18. Lebensjahr verboten. Die chirurgische Angleichung an das Gegengeschlecht ist ein komplizierter, aufwendiger Eingriff, der Risiken birgt und medizinischen Grenzen unterliegt. Zudem ist eine geschlechtsangleichende Operation nicht mehr umkehrbar.
Romanos: Wir raten erst einmal zur Gelassenheit. Es ist ein Prozess. Wichtig ist es, zuzuhören. Abwehr führt eher dazu, dass Wege beschritten werden, die auch die Jugendlichen dann manchmal bereuen.
Romanos: Man sieht in den öffentlichen Diskussionen, dass es ein Thema ist, das die Menschen bewegt und auch ein Stück weit polarisiert. Wir beobachten, dass die Gesellschaft flexibler wird in ihren Rollenvorgaben, Erwartungen und Geschlechtermodellen. Ich will das nicht bewerten. Gesellschaftliche Entwicklungen passieren immer und sie gehen immer weiter, ob wir es gut finden oder nicht. Es gibt keine Referenz, wie unsere gesellschaftlichen Vorstellungen sein sollten, weil sie sich in der Zeit kontinuierlich verändert haben. Als Kinder- und Jugendpsychiater werbe ich grundsätzlich für Offenheit, wechselseitiges Verständnis und die Akzeptanz, dass diejenige Hilfe erhalten, die sie brauchen.
Ich weiß nicht warum man schreibt, dass man die Kinder Kinder sein lassen soll, genau das ist ja der Punkt. Menschen, die schon in jungen Jahren Depressionen entwickeln, weil sie todunglücklich sind mit ihrem Geschlecht, können keine schöne Jugend erleben, sofern ihnen nicht geholfen wird.
Ich kenne sehr viele Jugendliche, die sich selbst verletzen und Suizidgedanken haben deshalb, das wird nicht weg gehen, wenn man es als Eltern ignoriert.
Irgendwann kommt der Punkt, da geht es nicht mehr, ich spreche da aus eigener Erfahrung…
Man muss sich nur die Lokalpresse anschauen. Jeden Tag mindestens ein Artikel über dieses Thema.