Wollte man auf die Fußballsprache zurückgreifen, könnte man sagen, das Mozartfest 2021 ging in seiner zweiten Woche dahin, wo es wehtut. Das Festival stellt sich der Geschichte seiner Gründung und seinem Gründer Hermann Zilcher (1881-1948). Dessen Namen wollen manche am liebsten aus allen Chroniken gestrichen wissen, andere wiederum fordern ein stärkere Würdigung seiner Verdienste. Die Würzburger Kommission zur Überprüfung der Straßennamen jedenfalls hat wegen Zilchers aktiver Unterstützung des NS-Regimes empfohlen, die nach ihm benannte Straße umzubenennen.
Das Festival geht in seiner Jubiläumsausgabe aber noch einen Schritt weiter und stellt gleich noch die grundsätzliche Frage nach dem zivilisatorischen Wert von Kultur. Um es vorweg zu nehmen: Viel ist nicht übriggeblieben vom Glauben an die läuternde oder gar erzieherische Kraft der Kunst.
Verehrt und Verurteilt: Hermann Zilcher, der schwierige Gründer des Würzburger Mozartfests
Ein beliebtes Zitat zu Mozart ist eines von Hermann Hesse, ziemlich genau aus der Gründungszeit des Mozartfests: "Mozart. Das bedeutet, die Welt hat einen Sinn." Prof. Ulrich Konrad sieht das nüchterner: "Wir sind es, die letztlich der Musik ihren Sinn geben, und nicht die Musik uns."
Konrad ist Ordinarius am Institut für Musikforschung der Universität Würzburg und Vorsitzender des Mozartfest-Kuratoriums. In der "Allzeit..."-Reihe des Festivals sprach er im Kapitelsaal des Hotels Rebstock über "Aufbruch und Zusammenbruch", also die ersten 13 Jahre von 1921 bis 1944. Von der Gründung in einer Zeit des Aufbruchs aber auch kollektiver Verunsicherung bis zum – vorläufigen – Ende im Krieg.
Zentrale Figur dieser ersten Phase war der Komponist, Dirigent, Pianist und Pädagoge Hermann Zilcher. Der 1920 gerade erst ernannte Direktor des Würzburger Staatskonservatoriums sah sich selbst in der Tradition der Spätromantik – über den Bruch des Ersten Weltkriegs hinaus. Demgegenüber standen die Vertreter der Moderne, unter ihnen etwa Paul Hindemith, die forderten, die Kunst müsse nach der Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts eine neue Rolle finden.
Insofern war Zilchers Idee, mit der Musik von Mozart in die Residenz zu gehen, "ein antimoderner Impuls", sagt Ulrich Konrad. Mozart war seit Beginn des Jahrhunderts "germanisiert" worden, man war der Ansicht, seine Musik entstehe "aus dem Empfinden des Volkes heraus" und verkörpere das "Wesen des Deutschen". Insofern brach 1933 keine neue Zeit der Mozartpflege an: "Da mussten die Nationalsozialisten gar nichts mehr tun. Vieles war angelegt, das konnte man nahtlos weiterführen."
Radikal abgeschnitten wurde die Moderne, radikal ausgegrenzt wurden jüdische Musiker, verboten die Werke jüdischer Komponisten. Konrad: "Wer nicht Mitglied der Reichsmusikkammer war, der konnte in Deutschland nicht Musik machen. Das kam Musikern mit der Haltung eines Hermann Zilcher zupass, die ohnehin keine Beziehung zur Moderne hatten."
So wurde 1941 das bis dato größte Mozartfest gefeiert – als fände es in einem unpolitischen Idyll statt. Flyer und Programmhefte kamen ganz ohne Hakenkreuze aus. "Diese Weltflucht-Idee, die auch zum fatalen Erbe der romantischen Ästhetik gehört", sagt Ulrich Konrad. Eine eher sachliche, weniger romantische Mozartauffassung, so Zilcher in einem Aufsatz, sei "stilistische Verwilderung und Verwässerung". "Die großen deutschen Tonschöpfer", so Zilcher weiter, "wurden wohl nie undeutscher und artfremder dem Volk gedeutet, als zu jener Zeit, wo jüdisches Musizier- und Dirigentenunwesen das Musik- und Konzertleben bei uns beherrschten."
Ulrich Konrad schätzt Zilchers Lob für die Kulturarbeit des nationalsozialistischen Staats als ehrlich gemeint ein: "Das Volkserzieherische war ihm ein ernsthaftes Anliegen." Sehr schwierig aber sei es, die Haltung des Mozartfest-Gründers zum Nationalsozialismus und zur Partei zu bewerten. "Das ist mit vielerlei Fallen umstellt, in die man leicht tappen kann. Aber dass er mit all seinem Charisma und all seiner gestalterischen und organisatorischen Kraft überzeugt war, auch in diesem verbrecherischen Regime, das er ja letztlich stabilisierte, dass er damit gleichwohl etwas Gutes für die Menschen tut – das, glaube ich, hat ihn bis zum letzten Atemzug beherrscht."
Schiller glaubt, dass Schönheit den Menschen besser macht – Peter-André Alt kann das widerlegen
Mozart in Dienste des Nationalsozialismus – machen uns Kunst und Kultur also doch nicht zu besseren Menschen? Prof. Peter-André Alt, Literaturwissenschaftler an der Freien Universität Berlin, hat seine Zweifel. In seinem Vortrag im Rahmen der Mozartfest-Reihe "Wie viel Mozart braucht der Mensch" sprach er in der Neubaukirche über "Unsere Kultur. Zur Ambivalenz eines Konzepts".
Dieses Konzept ist bis heute stark geprägt vom Glauben Friedrich Schillers an die "ästhetische Erziehung" des Menschen: "Wenn der Mensch durch die Begegnung mit dem Schönen die richtige innere Harmonie gefunden hat, wird er auch im Raum von Gesellschaft und Staat die Gesetze der Freiheit und Selbstbestimmung respektieren."
Peter-André Alt wies diesem Glauben mühelos gravierende Mängel nach – es reichte eine Liste kunstliebender Diktatoren und Massenmörder. Grausige Realität etwa waren die SS-Schergen, die tagsüber Massaker befahlen und abends Hausmusik machten: "In der menschlichen Psyche scheint die Trennung von Moral und Schönheit relativ reibungsfrei zu funktionieren." Praktisch ausgedrückt: "Wer moralische Bücher liest, kann verbrecherisch handeln. Wer böse Bücher liest, kann dennoch ein guter Mensch bleiben."
Taugt Kultur also doch nur zu Zerstreuung, Ablenkung oder gar zum (Selbst-)Betrug? Peter-André Alt kommt zu einem einigermaßen konstruktiven Fazit: "Sie ermöglicht uns die Erfassung von Widersprüchen", sagte er. "Die Bewältigung jener Diversität, die unseren globalen Welten innewohnt. Kultur ist ein Instrument zur kritischen Selbstbewertung einer jeden Gesellschaft. Ein besseres haben wir nicht."
Härter als am Schicksal der Geigerin Alma Rosé lässt sich die Missbrauchbarkeit von Musik kaum illustrieren
Die härteste Anfechtung an jeglichen Kulturglauben ist wohl der Nationalsozialismus. Und härter als am Schicksal der jungen Geigerin Alma Rosé lässt sich die Missbrauchbarkeit von Musik kaum illustrieren. Die Schauspielerin Corinna Harfouch erzählte dieses Schicksal im Kulturzentrum Shalom Europa mit Briefen und Zeitzeugen-Dokumenten im Wechsel mit Musik. Titel: "An ihrer Wiege stand Mahler, an ihrer Bahre Mengele".
Alma Rosé wurde 1906 in eine prominente Wiener Musikerfamilie geboren: Ihr Vater war Arnold Rosé, Konzertmeister der Wiener Philharmoniker, ihr Onkel Gustav Mahler. "Die Mahler-Rosé-Familie gab wenig auf ihre jüdische Abstammung ... Wie so viele europäische Intellektuelle ihrer Zeit fanden sie die Auffassung vom Judentum als Rasse lächerlich", las Corinna Harfouch.
Es war nicht ihr Glaube an die humanistische Kraft der Kultur, der der Familie zum Verhängnis wurde. Aber dieser Glaube trug viel zu einem trügerischen Gefühl der Sicherheit bei. Doch nach dem "Anschluss" ging alles ganz schnell: Der einst gefeierte Vater wurde noch am Tag des Einmarschs seines Postens enthoben, vermeintliche Freunde wandten sich ab. Alma, selbst als Leiterin eines Frauenorchesters erfolgreich, gelang es, nach London auszureisen und sogar den Vater nachzuholen. Doch dann trieben sie soziale Isolation und finanzielle Sorgen dazu, in die Niederlande zu gehen, wo sie Konzerte geben konnte.
Als die Deutschen auch in Holland einmarschierten, musste sie fliehen. In Frankreich wurde sie verhaftet und nach Auschwitz-Birkenau gebracht. Dort kam sie zunächst in Block 10, Mengeles "Experimentierblock". Aber als bekannt wurde, dass sie eine bekannte Geigerin war, sah SS-Oberaufseherin Maria Mandel ihre Chance: Die männlichen Lagerkapellen brachten ihren SS-Gönnern Ansehen, also wollte sie ein Frauenorchester.
Alma Rosé wurde dessen Leiterin und arbeitete wie besessen an Qualität und Repertoire des Ensembles. Wenn man so will, erbrachten sie und ihre Mitmusikerinnen den Beweis sowohl für das demagogische wie das humanistische Potenzial der Musik. Einerseits stützten sie mit ihren Auftritten all die zynischen Lügen der SS. "Diese Püppchen, alle in marineblauen Kleidern mit schneeweißen Kragen – da sitzen sie auf bequemen Stühlchen. Diese Musik soll uns anfeuern, soll uns mobilisieren wie das Signal einer kampflustigen Trompete, das sogar krepierende Gäule während der Schlacht wieder hochreißt", erinnert sich Mithäftling Romana Duraszowa.
Andererseits rettete die Musik vielen nicht nur körperlich das Leben. Die Cellistin Anita Lasker-Wallfisch: "Ich werde niemals den Abend vergessen, an dem wir Beethovens ,Pathétique-Sonate' zum ersten Mal spielten. Damit hoben wir uns im wahrsten Sinne des Wortes über das Inferno, in dem wir lebten, in Sphären hinaus, die nicht von den Erniedrigungen einer Existenz im Konzentrationslager berührt werden konnten."
Alma Rosé überlebte Auschwitz nicht. Sie starb am 4. April 1944. Über die Todesursache konnten die Ärztinnen sich nicht einigen.
Corinna Harfouch las ruhig, sanft, fast zärtlich. Hin und wieder musste sie, ergriffen, kurz pausieren. Die phänomenale Geigerin Latica Honda-Rosenberg spielte, am Flügel begleitet von Hideyo Harada, biografisch passende Stücke dazu – Mozart, Bach, Brahms, Beethoven, Schubert, Schumann etwa. Als nach der furiosen Wiedergabe von Montis Bravourstück "Csárdás", den auch Alma Rosé mit ihrem Orchester einstudiert hatte, spontaner Beifall ausbrechen wollte, schüttelte Harfouch nur ganz leicht den Kopf.
Der zweite Teil von Prof. Ulrich Konrads Vortrag zur Geschichte des Mozartfests findet am 23. Juni, 19 Uhr, statt. Titel: "Aufbruch und Zukunft".
Die weiteren Termine der Vortragsreihe "Wie viel Mozart braucht der Mensch?": 13., 20., 27. Juni, immer 15 Uhr
Alle Vorträge werden auf dem Youtube-Kanal des Mozartfests gestreamt und sind dort noch jeweils eine Woche lang online.