Sehr geehrter Herr Bundespräsident, lieber Frank-Walter Steinmeier,
in einem Punkt haben wir, Sie und ich, vermutlich ähnliche Erfahrungen: Wir haben im Laufe unseres Berufslebens unzählige Eröffnungsreden gehört. Witzige, langweilige, pathetische, kritische, bedeutungsschwere. Aber egal wie, die meisten, so zumindest meine Wahrnehmung, waren nicht allzu aussagekräftig, wenn es um Kultur ging.
Da wird – natürlich – immer der Wert von Kultur beschworen. Ihre Bedeutung für das demokratische Miteinander, für eine mündige Zivilgesellschaft, für ein erfülltes Leben. Sie, Herr Bundespräsident, haben in Ihrer Rede zur Eröffnung des Würzburger Mozartfests vor einer Woche zwar auch einen wohlklingenden Satz in dieser Richtung gesagt: "Ohne Mozart und seine Musik würde unserem Selbstverständnis, unserem Weltverständnis und den Möglichkeiten, dafür einen Ausdruck zu finden, etwas Unersetzliches fehlen."
Aber, und das habe ich bislang so noch nie gehört: Sie haben diesen Satz auch belegt. Mit sehr gut ausgewählten Beispielen. Die kann Ihnen natürlich auch Ihre Abteilung Öffentlichkeitsarbeit in die Rede geschrieben haben, aber so hörte es sich für mich nicht an.
Dass das Staatsoberhaupt persönlich zur Eröffnung kam, ist als Statement interpretiert worden
Wer die "Zauberflöte" als "immer wieder rätselhaftes und immer wieder tief bewegendes Loblied auf die Liebe und ihre weltverändernde Kraft" lobt, hat sie offenbar schon einmal erlebt, diese Kraft. Und wer dann auch noch das Finale des zweiten Aktes der "Hochzeit des Figaro" heranzieht, weiß offenbar, wovon er redet: "Wo bis zu sieben menschliche Stimmen sich verwickeln, sich streiten, sich verbinden und lösen – und wo sich musikalisch innerhalb von zwanzig Minuten ein ganzes Drama menschlichen Zusammenlebens abspielt."
Dass das Staatsoberhaupt persönlich zur Eröffnung des Klassikfestivals kam, ist hier in Würzburg als große Ehre empfunden und als Statement interpretiert worden. Schließlich hat es die Kultur in der Pandemie besonders schwer. Zudem war schon lange vor Corona von einer "Krise der Hochkultur" und einer "Krise der Klassik" die Rede. Überaltertes Publikum, die immer gleichen Programme, kaum mehr musische Bildung an den Schulen, keine Musikpflege in den Familien und eine vielfach beklagte "Entintellektualisierung" auf nahezu allen Ebenen der Gesellschaft – jede Menge Sorgen, jede Menge Baustellen.
Wobei, wer eine "Entintellektualisierung" beklagt, sich einer Gefahr bewusst sein sollte: Genau den vermeintlich intellektuellen Anspruch empfinden viele Menschen als hohe Schwelle. Als brauchte es profundes Vorwissen, um die "Zauberflöte" oder "Die Hochzeit des Figaro" zu genießen. "Ich verstehe davon einfach zu wenig", ist da ein beliebter Satz. Wenn Kultur immer nur als weihevoll-bedeutungsschwere Disziplin beschrieben, aber kaum je darüber gesprochen wird, was diese Kultur denn tatsächlich für uns alle tun kann, welch Genuss, Spaß, Bereicherung sie sein kann, dann schadet das vermutlich mehr, als dass es nützt.
Sie schlagen ein spannendes Spiel vor, Herr Bundespräsident: die Weglassprobe
Sie, Herr Bundespräsident, haben – ganz unabhängig von irgendwelchen Pandemien – vorgeschlagen, doch mal die "Weglassprobe" zu machen: "Was würde uns fehlen, wenn es dieses oder jenes nicht gäbe, was uns selbstverständlich vorkommt?" Und haben dann einiges benannt: die späten Sinfonien oder die kleinen Stücke, "die sich so tief in unser musikalisches Gedächtnis eingeschrieben haben, wie die ,Kleine Nachtmusik' oder das ,Rondo Alla Turca', die Kinder, die noch kaum Musik gehört haben, genauso unmittelbar ansprechen wie den Kenner". Das kann man direkt als Hörtipp mitnehmen – und das ist schon viel mehr als die ewigen – unbelegten – Appelle.
Dieser Eröffnungstag war natürlich auch noch in anderer Hinsicht denkwürdig: Es war der Tag, an dem Sie in Berlin bekanntgaben, für eine zweite Amtszeit kandidieren zu wollen. Auch das hat mir imponiert. Vielleicht bin ich ja auf das taktische Manöver eines Politprofis hereingefallen – böse Zungen sagen, Sie wollten in Erwartung einer krachenden Wahlniederlage Ihrer SPD die einstigen Unterstützer auch im Lager der Union zeitig unter Zugzwang setzen.
Und ich weiß auch, dass viele bemängeln, Sie hätten noch keine wirklich historische Rede gehalten, und wären auch kaum als Gegengewicht zur charismatisch eher verhaltenen Kanzlerin in Erscheinung getreten. Ich jedenfalls wünsche Ihnen, lieber Herr Steinmeier, dass sich Ihre Wiederwahl nicht zu einem "Drama menschlichen Zusammenlebens" entwickelt. In Würzburg jedenfalls haben Sie die richtigen Worte gefunden.
Mit besten Empfehlungen,
Mathias Wiedemann, Redakteur