Im Sommer 2019, als er in der Klinik mit einer monströsen Manschette um den Hals nach einer Notoperation aus der Narkose aufwachte, war das alles kaum vorstellbar. Dass er wieder recht eigenständig würde leben können. Alleine essen und trinken. Auto fahren. Seinem Beruf als Bankkaufmann nachgehen. Fast ohne Hilfe einen abschüssigen Kiesweg wie auf dem Kreuzberg in Hallerndorf (Lkr. Forchheim) von der Kirche zum Brauhaus hinuntergehen. "Du wirst nie wieder selbstständig laufen können", hatte eine Ärztin dem früheren Leistungssportler prognostiziert.
Doch nun sitzt er da, an einem Tisch vor den Braukesseln. Hellgrauer Anzug, schwarzes T-Shirt, weiße Sneaker. Er ist mit seinem Auto mit Handapparat zum Gas geben und Bremsen von seiner Arbeit bei der Sparkasse Forchheim gekommen. Isst Schnitzel mit Pommes. Trinkt ein Helles. Und versprüht eine ähnlich positive Energie wie früher, als er noch beim Handball-Zweitligisten DJK Rimpar Wölfe (heute Wölfe Würzburg) aktiv war. Hinter seinem Lachen jedoch schimmert Reife durch, wie ein doppelter Glasboden, der Tiefe darunter erahnen lässt.
Auf die Frage, mit welchen Gefühlen er auf die vergangenen fünf Jahre zurückblicke, antwortet der 31-Jährige: "Mit Demut, Dankbarkeit und Freude. Ich habe wahnsinnig viel geschafft und wahnsinnig viel Unterstützung dabei erfahren."
Eine typische Tobias-Büttner-Antwort. Sie sagt viel über ihn aus. Das, was sie zunächst verschweigt, schiebt der frühere Leistungssportler nach. "Ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, dass ich nicht auch ab und zu traurig bin. Darüber, dass mein Körper nicht mehr kann, was er früher konnte."
Ein banaler Sturz am Ballermann mit fatalen Folgen
Das, was ihm zugestoßen ist, war noch unvorstellbarer als alles, was sich Tobias Büttner inzwischen wieder hart erarbeitet hat. Es war der 29. Juli 2019, der sein Leben in ein Davor und ein Danach teilte. An diesem Montag jährt sich sein Schicksalsschlag zum fünften Mal.
Rückblick: Es ist ein Sommertag auf Mallorca. Tobias Büttner ist 26 und mit zwei Kumpels für ein langes Wochenende auf der Insel. Eine Auszeit vom Arbeitsalltag, für ein paar Tage das pralle Leben am Ballermann genießen. Im "Megapark" auf der Partymeile von El Arenal genehmigen sie sich an diesem sonnigen Mittag "zwei kleine Freibiere". Dann muss Tobias Büttner zur Toilette. Als er zurückkommt, passiert es: Er rutscht auf einer nassen Stelle aus, fällt nach hinten über einen Barhocker und schlägt mit dem Kopf und Genick auf dem Boden auf.
"Ich hab' sofort gemerkt, dass ich Hals abwärts nichts mehr bewegen konnte", wird Tobias Büttner später erzählen. Nachdem er von der Klinik in Palma nach Deutschland geflogen und in Bad Berka in Thüringen notoperiert wurde, ist klar: Er ist ab dem dritten Halswirbel inkomplett querschnittgelähmt. Beide Arme, beide Beine und Organe sind betroffen.
Tobias Büttner ist ein Musterbeispiel für Resilienz
Manche Menschen würden daran wohl zerbrechen. Tobias Büttner ist aufgestanden. Mit eisernem Willen, mentaler Stärke und bewundernswerter Haltung hat er sich nach dem freien Fall neuen Boden unter seinen Füßen verlegt und sich darauf Schritt für Schritt zurück ins Leben gekämpft.
Noch in der Reha gründete der Erlanger sogar eine Stiftung: "Nerven aus Stahl" unterstützt Menschen in schwierigen Lebenssituationen, die zudem finanzielle Nöte haben. Resilienz nennen Psychologen die Fähigkeit, Krisen zu meistern und als Antrieb für Entwicklung zu nutzen. "Tobi ist unheimlich stark", hat seine Mutter Andrea Büttner einmal über ihn gesagt. "Wie stark, das hat er vorher vielleicht selbst nicht gewusst."
"Früher Handballer, heute Held", lautete 2019 die Überschrift des ersten Artikels über Tobias Büttner. Diese Redaktion hatte ihn dafür in der Zentralklinik in Bad Berka besucht, vier Monate nach seinem Unfall – und hat ihn seither immer wieder getroffen und auf seinem Weg begleitet. Heute sagt der Stehaufmann: "Ich werde auch am fünften Jahrestag sicher mal kurz an den 29. Juli 2019 zurückdenken, aber es bringt nichts, mit etwas zu hadern, das ich nicht ändern kann."
Im Rollstuhl fühlt er sich "ein bisschen minderwertig"
Vom Ecktisch des Brauhauses wehen Wortfetzen herüber. Lachen. Das Klirren von anstoßenden Biergläsern. Eine illustre Herrenrunde scheint den Herbst des Lebens zu genießen. "Ein Prost, ein Prost, ein Prösterlein Prost, wir leben nur einmal", stimmen die betagten Männer an. Ihr Gesang schallt durch den Gastraum. Tobias Büttner schaut zu ihnen hinüber und grinst. "Gut drauf, die Jungs", kommentiert er. Plötzlich wirkt er nachdenklich. "Ich habe mein neues Leben so akzeptiert, wie es jetzt ist", sagt er dann. "Auch wenn es sehr anders ist als mein altes."
Handballspielen, Skifahren, Snowboarden, Wandern, Toben mit den Neffen – all das, was er früher liebte, ist nicht mehr möglich. Wellness-Wochenenden haben Action-Urlaube ersetzt. Im Alltag komme er im Großen und Ganzen klar, sagt Tobias Büttner. "Beim Putzen oder Einkaufen hilft mir meine Familie."
Schwieriger wird es, wenn er seinen Alltag verlässt. "Dann bin ich auf den Rollstuhl angewiesen. Und darin fühle ich mich ein bisschen minderwertig. Denn im Rollstuhl bin ich unselbstständig und auf Hilfe angewiesen. Außerdem muss ich immer zu anderen aufschauen." Daher versuche er, den Rollstuhl möglichst zu meiden. "Aber oft wäre die Alternative: Ich bin nicht dabei." Einsamkeit kannte Tobias Büttner früher nicht. Heute überlegt er, ob ihm eine Unternehmung die Anstrengung wert ist.
Bei Fieber und Infekten wird Tobias Büttner zum Pflegefall
Körperlich hat sich sein Zustand nach den ersten beiden Jahren nach dem Unfall, in denen es stetig bergauf gegangen war, nicht mehr wesentlich verändert. "Er ist tages- und wetterabhängig." Schlechter, wenn er Fieber oder einen Infekt hat. "Dann werde ich zum Pflegefall und zapple wie Zitteralfons." Besser, wenn die Spastik eingeschränkt ist. "In den Händen habe ich wieder eine ganz gute Sensibilität, auch wenn die Feinmotorik fehlt. Die Beine fühlen sich nach wie vor fremd an, wie Stelzen. Wenn ich mich nicht konzentriere beim Laufen, dann falle ich hin." In seiner Wohnung in Erlangen habe er sich schon einige Platzwunden geholt.
Gegen die Spastik in der Blase bekommt Tobias Büttner regelmäßig Botox gespritzt. Ein Ziel hat er nicht erreicht: "wieder normal pinkeln und kacken zu können". Nach wie vor braucht er Katheter. "Ich habe die Hoffnung nicht aufgegeben, dass sich Nuancen noch verbessern", sagt er. So oder so: "Vor fünf Jahren hätte ich nicht zu träumen gewagt, wie gut es mir heute geht."
Besuche beim Handball werden zum Event
Dass dem so ist, hat Tobias Büttner nicht nur Ärzten, seiner Familie und Freunden zu verdanken, sondern maßgeblich sich selbst. "Es hilft mir, dass ich grundsätzlich ein positiv-humorvoller Mensch bin", gibt er zu. Als solcher machte er aus mancher Not eine Tugend – und seine liebste Sportart Handball zum Event. Er besuchte das Finalwochenende bei der Heim-EM, das Champions-League-Final-Four in Köln und die Endrunden des DHB-Pokalwettbewerbs in Hamburg und Köln. "Da habe ich eine eigene Loge gemietet und Menschen eingeladen, die mir wichtig sind."
Auch dem regionalen Handball ist Tobias Büttner verbunden geblieben. Beim TV 1861 Erlangen-Bruck ist er im Management für die Finanzen verantwortlich, bei den Wölfen Würzburg kommentiert er vereinzelt noch Spiele als Experte.
Dankbarkeit für kleine Dinge und schöne Momente
Es ist Nachmittag geworden. Die Herrenrunde am Nebentisch hat sich aufgelöst. Der Fotograf ist eingetroffen, um Porträts von Tobias Büttner zu machen. Der müht sich den Weg wieder hinauf, wegen seines steiferen rechten Beins hat er seinen Gang einmal "Roboterstyle" genannt. Er scherzt die Anstrengung weg und posiert am Waldrand mit strahlendem Lachen. Am Baum hinter ihm hängt ein Schild mit der Aufschrift "Sonnenblick". Wie passend.
Tobias Büttner richtet seinen Blick trotz seines Schicksalsschlages auf die Sonnenseiten des Lebens. "Ich bin dankbar für die kleinen Dinge. Dafür, dass ich den Kiesweg unfallfrei geschafft habe. Für schöne Momente mit lieben Menschen. Die geben mir Kraft." Was er sich für die Zukunft wünscht? "Ich will meine Lebensfreude behalten."
Im Sommer 2019 war auch ein solcher Satz kaum vorstellbar.