Das letzte Mal geweint hat er vor elf Jahren, nach dem Tod seiner Oma. Seit sein eigenes Leben zu Ende gegangen ist, so wie er es kannte, führte und plante, sind ihm nur noch einmal die Tränen gekommen. Tobias Büttner war bis vor vier Jahren Leistungssportler beim Handball-Zweitligisten DJK Rimpar Wölfe und stand zuletzt beim Drittliga-Absteiger TV Erlangen-Bruck unter Vertrag. Handballspielen wird er nie mehr - aber das ist noch eine seiner kleineren Sorgen.
"Ich habe kein Selbstmitleid, also brauche ich auch kein Mitleid", sagt der 26-Jährige mit fester Stimme an diesem Wintertag in der Zentralklinik im thüringischen Bad Berka, vier Monate nach dem Moment, der alles verändert hat.
Es ist ein Sommertag auf Mallorca, der 29. Juli 2019. Tobias Büttner ist mit zwei Kumpels für ein langes Wochenende auf der Insel. Sie kehren mittags im "Megapark" auf der Partymeile von El Arenal ein. "Wir haben zwei kleine Freibiere abgesahnt und waren noch weit davon entfernt, betrunken zu sein", erzählt er. "Dann ist es passiert: Ich bin von der Toilette zurückgekommen, auf dem nassen Boden blöd weggerutscht, nach hinten über einen Barhocker gefallen und mit dem Kopf und Genick auf dem Boden aufgeschlagen."
Eine Szene, fast banal im berauschten Ballermann-Alltag. Ein Sturz, wie ihn Büttner selbst so ähnlich schon erlebt hat, nicht nur bei Saisonabschlussfahrten mit den Handballern. "Erst am Vorabend bin ich stehend von einem Hocker runtergeflogen und lachend wieder hochgeklettert." An diesem Tag steht er nicht mehr auf. "Ich hab sofort gemerkt, dass ich Hals abwärts nichts mehr bewegen konnte." Sein Körper kotzt Angst in Form von Adrenalin aus.
Diagnose nach sechsstündiger Notoperation
Zwei ungehaltene Türsteher packen den Erlanger an Händen und Füßen, tragen ihn nach draußen und legen ihn auf dem Gehsteig in der Sonne ab. Was ihm damals durch den Kopf geht, verdrängt sein Gedächtnis in den Schatten. Er kann sich nur noch daran erinnern, dass irgendwann ein Krankenwagen kommt und ihn in die Klinik nach Palma bringt. Nach CT und MRT beruhigen die spanischen Ärzte ihn mit den Worten: "In vier Wochen bist du wieder der Alte." Heute weiß Tobias Büttner: Das wird er nie mehr sein.
Seine Auslandskrankenversicherung schickt zwei deutsche Ärzte nach Mallorca. Sie begleiten ihn beim Rücktransport. Zwei Tage nach dem Unfall wird er in einer Art Privatjet von Palma nach Erfurt geflogen - "wie ein Star", scherzt Büttner. Nach sechsstündiger Notoperation in Bad Berka erfahren seine Eltern: Ihr Sohn ist ab dem dritten Halswirbel inkomplett querschnittgelähmt.
Tetraplegie heißt seine Form der Querschnittlähmung, bei der aufgrund einer Quetschung des Rückenmarks beide Arme und beide Beine teilweise gelähmt sind. Meist geht Betroffenen auch die Sensibilität für Schmerz, Druck oder Temperaturunterschiede verloren. Als der 26-Jährige mit einer monströsen Manschette um den Hals auf der Intensivstation aus der Narkose aufwacht, spürt er im ganzen Körper: nichts.
20 Kilo an Gewicht verloren
Eine längere Narbe im Nacken und eine kürzere am Hals sind vom Eingriff geblieben. Doch man nimmt sie kaum wahr. Es ist auch nicht der Rollstuhl, der als Erstes auffällt, als der Fahrer mit den kurzrasierten blonden Haaren im Foyer des Klinikums um die Ecke biegt. Es sind nicht die schlanken Beine in der schwarzen Jogginghose und nicht die schmalen Schultern, die mal zu einem Leistungssportlerkörper mit 20 Kilo mehr Gewicht gehörten. Und es ist auch nicht das grüne Trikot mit der Nummer 27, in dem der Rechtsaußen 2014/15 mit den Rimparer Wölfen die erste Saison in der zweiten Bundesliga spielte.
"Heute hab ich mich das erste Mal selber angezogen, sogar die Schuhe hab ich zugebunden", sagt der Linkshänder. Er grinst stolz, als habe er soeben das Tor zu einem entscheidenden Sieg geworfen. Dieses offene, dieses ungekünstelte Lachen ist es, das den Blick wie ein Magnet anzieht. Zwei leuchtende blaugrüne Augen halten den Blick fest.
"Nüscht für Luschen, wir brauchen Helden"
Ein Schild mit der Aufschrift "Nüscht für Luschen, wir brauchen Helden", steht am Haupteingang des Krankenhauses, vor einem Weihnachtsbaum, über dem ein riesiger runder Kerzenleuchter unter einer Glaskuppel hängt. Im zweiten Stock gibt es eine ruhige Sitzecke abseits des Trubels. Ein paar Sesselchen reihen sich um einen Tisch vor einer Mauer aus Steinen, bewachsen mit Grünpflanzen. Tobias Büttner kommt gerne mit Besuch hierher. In den vier Monaten, seit er da ist, hat er nur an elf Tagen keinen bekommen.
"Wenn man mit dem Verstand eines jungen Mannes mit über 26 Jahren Lebenserfahrung aufwacht und plötzlich einen völlig funktionslosen Körper hat, der alles neu lernen muss wie ein Baby, obwohl der Verstand weiß, zu was der Körper im Stande ist, dann denkt man: Das ist die schlimmste Zeit deines Lebens", sagt er an diesem Nachmittag. "Heute weiß ich: Das ist es nicht." Er schaut in die Gesichter seiner Geschwister und seines Schwagers und lächelt. Dankbar.
Die Hölle im Kopf
"Das Einzige, womit Tobi sich beschäftigen konnte, war wirklich sein Kopf", sagt Jochen Weeger (30), der Mann von Büttners Schwester Stefanie. Ein Kopf kann zum Gefängnis werden. Für den Sportler wird er zur Hölle. Gebettet in einem Beatmungszimmer zwischen vielen Schläuchen und Kabeln, leidet er unter heftigen Halluzinationen. "Ich wurde auf Mallorca zugedröhnt mit Morphium und hab dann auch hier nach der OP starke Schmerzmittel bekommen. In den ersten zehn Tagen hab ich Menschen beschimpft, Klinikpersonal entlassen und wurde von der tschechischen Mafia verfolgt." Büttner lacht. Alle anderen lachen mit. Galgenhumor ist immer noch besser als gar kein Humor. Er wirkt weder aufgesetzt noch wie eine Flucht. "Wir wussten, dass es aufwärts geht, sobald Tobi wieder was tun kann", sagt der Schwager.
Nach knapp drei Wochen spürt Büttner erste Zuckungen. Und mit ihnen: Hoffnung. Vor allem aber: mounteverestgroße Motivation. "Seither gab es nur eine Richtung", betont er: "steil bergauf." Der gelernte Bankkaufmann hält kurz inne, dann schiebt er spaßig nach: "Wobei, zwei Tiefpunkte hatte ich: Als ich noch mal Krabbeln lernen musste und als ich die Gummibärchenbox, die mir Kollegen geschenkt haben, einfach nicht aufbekommen habe." Einen vorläufigen Höhepunkt gab es auch: "Als ich zum ersten Mal wieder eine Bierflasche halten und selbst daraus trinken konnte."
Ein Stück Selbständigkeit dank Katheter
An diesem Tag ist es ein Pappbecher Kaffee. Der Handballer braucht beide Hände, um ihn zum Mund zu führen. In den Fingern fehlt die Feinmotorik. Seit zwei Wochen kann er sich trotzdem selbst einen Kurzzeitkatheter legen, wieder ein Stück Selbstständigkeit. "Ich bin völlig kontinent", stellt er klar, "nur funktionieren Blase und Darm noch nicht so, wie sie sollen." Typisch bei Tetraplegie.
Christin Schulz, Gesundheits- und Krankenpflegerin, erinnert sich noch gut an ihre erste Begegnung mit dem Stationsspaßvogel. "Wenn jemand gar nichts mehr selber kann, schafft das sehr intime Situationen in der Körperpflege", sagt sie. "Erzähl' ruhig, dass ich mir in die Hose gekackt und mich gefreut hab, dass ich es gemerkt hab!", fordert Büttner sie auf. Er behauptet von sich, seit jeher kein besonders ausgeprägtes Schamgefühl zu besitzen. Das komme ihm nun zugute.
"Du wirst nie wieder selbständig laufen"
Der 26-Jährige und die 21-Jährige haben viele Stunden in den vier Monaten zusammen verbracht und sich angefreundet. In all der Zeit habe sie ihn nie jammern hören, sagt Christin Schulz. "Manchmal motiviert er uns sogar mehr als wir ihn." Was ihr besonders imponiert: "Er lässt sich von niemandem negativ beeinflussen. Neulich hat die Oberärztin zu ihm gesagt: 'Ich gehe davon aus, dass du nie wieder selbstständig laufen wirst.' Da hat er nur gelacht." Was die Ärztin nicht wusste: Zu dem Zeitpunkt hatte Büttner dank täglicher Physio-, Ergo- und Sporttherapie - einem Krafttraining und Rollstuhlspiel - bereits erste Schritte gemacht. "Tobi ist sehr zielstrebig und extrem positiv", bekräftigt die Krankenschwester.
Positiv. Es ist die Eigenschaft, mit der er am häufigsten beschrieben wird. "Als ich meinen kleinen Bruder beim ersten Mal so hilflos und mit seinen Halluzinationen habe daliegen sehen, hatte ich Angst um ihn", gesteht Thomas Büttner (29). "Heute bin ich stolz wie Bolle, wie positiv er das alles meistert. Es gab keinen Besuch, bei dem wir nicht gelacht haben."
Schwester Stefanie Weeger, die für Familie und Freunde einen Online-Besuchskalender eingerichtet hat, nickt zustimmend. "Unsere Eltern hatten anfangs am meisten zu knabbern", erzählt die 31-Jährige. "Ich habe zu ihnen gesagt: Ihr braucht euch keine Sorgen um Tobi machen. Er wird nicht daran zerbrechen." Sie spricht diese Worte mit Wärme und Sicherheit aus. Warum sie nie einen Zweifel hatte? "Weil unsere Eltern uns ein Gefühl der Verwurzelung mitgegeben und uns so erzogen haben, dass wir wissen: Was auch immer passiert, wir sind füreinander da, und zusammen schaffen wir alles."
Für einen Moment breitet sich Stille am Tisch aus, die Sätze hallen nach. An Orten wie diesen wird Liebe zum Lebensretter und ein Gefühl zur Gewissheit: Es braucht nicht unbedingt eine heile Welt, um eine heile Familie zu sein. "Ohne all den Rückhalt hätte ich es nicht geschafft", gesteht Tobias Büttner. Seine Schwester meint: "Jedes von uns drei Kindern hätte es geschafft. Aber das Schicksal hat sich mit Tobi denjenigen ausgesucht, der am besten klarkommen wird."
Vom Leistungssport fürs Leben gelernt
Er hat seinen Geschwistern etwas voraus, das weiß er selbst: "Ich habe durch den Leistungssport gelernt, auch nach Niederlagen weiterzumachen, wieder aufzustehen und über Grenzen hinauszugehen."
Postkartensprüche. Solche hat Stefanie Weeger ihrem Bruder für die ersten 90 Tage über sein Bett gehängt. "Wie stark du tatsächlich bist, erfährst du erst dann, wenn stark sein deine einzige Option ist", heißt einer davon. Die normalen Patientenzimmer auf der Station B3 liegen hinter rollstuhlgerechten Schiebetüren, auch die Bäder und Schränke sind damit versehen. Auf Büttners Nachttisch liegt ein Bestseller für Sinnsuchende, "The Big Five for Life - Was wirklich zählt im Leben" von John Strelecky.
Vor dem Unfall habe sein Leben hauptsächlich aus Arbeit bestanden, berichtet der Bankkaufmann. Er war Teamleiter in der Online-Beratung der Sparkasse in Forchheim, nebenbei Vertriebscoach für Mitarbeiter. Nach der 50-Stunden-Woche im Job studierte er am Wochenende an einer Privatuni in Nürnberg Wirtschaftswissenschaften. Dazu kam der Handball beim TV Erlangen-Bruck, den er zuletzt hatte immer mehr schleifen lassen. "Diese Saison in der Bayernliga wollte ich wieder angreifen." Büttner hätte gegen Rimpar II, Heidingsfeld, Waldbüttelbrunn und Lohr gespielt. Doch alles zusammen war zu viel.
"Vielleicht habe ich einen Paukenschlag gebraucht, um aufzuwachen." Auch wenn der Paukenschlag ein irreversibler Nackenschlag war. "Es hört sich vielleicht komisch an, aber ich habe dadurch viel über mich gelernt. Und vor allem, worauf es wirklich ankommt im Leben. Auf die Menschen, die man liebt. Auf Familie und Freunde. Und auf die Zeit, die man mit ihnen hat."
Weihnachten in der Reha im Schwarzwald
Seine Eltern und Geschwister werden mit Tobias Büttner Weihnachten im Schwarzwald feiern. Gerade ist er in die Reha nach Bad Wildbad verlegt worden. Wie lange er dort bleiben wird, weiß er nicht. Die Ärzte hüten sich auch vor Prognosen zur weiteren Heilung. Sie hängt davon ab, ob und wie die geschädigten Nervenfasern im Rückenmark wieder zusammenwachsen. Büttner ist Optimist, aber auch Realist: "So bewegen wie früher werde ich mich nicht mehr können." Er schaut auf seine Beine, die plötzlich krampfen. Muskelzuckungen. "Wichtiger als Gehen wäre mir, dass diese Spastik nachlässt."
Künftige Rückschläge schließt er nicht aus, an eines will er indes fest glauben: "Mein neues Leben wird anders werden, aber nicht weniger lebenswert." Fürs erste Jahr hat er sich drei Ziele gesetzt: "Selbstständig in meine Wohnung zurückziehen, eins zu eins in meinen Job zurückkehren und jeden Tag etwas Gutes tun. Und sei es nur, einen Menschen zum Lachen zu bringen."
Auf ein Ereignis freut er sich schon jetzt: die Erlanger Bergkirchweih. "Bis dahin will ich noch lernen, mir einen Dauerkatheter zu legen. Wenn alle anderen ständig aufs Klo müssen, brauche ich unterm Biertisch nur meinen Beutel wechseln. Geil!" An diesem Tag bringt er zum wiederholten Mal fünf Menschen auf einmal zum Lachen.
Sein altes Leben hat der 26-Jährige auf Mallorca gelassen, ohne Hadern, wie er beteuert. "Ich kann es nicht zurückholen, und ich werde auch keine Antwort auf die Frage finden, warum mir das passiert ist. Außer die: Alles geschieht aus einem Grund."
Vielleicht ist ein Grund, dass dieser mutige junge Mann eine besondere Gabe des Gebens hat: Er schafft es, dass diejenigen, die zu ihm kommen, mit einem positiveren Gefühl wieder gehen.
Ein Abschlussbild. Tobias Büttner zieht sich mit beiden Händen an einem Geländer hoch und steht aus dem Rollstuhl auf. Fürs Gruppenfoto umarmen sich alle. Für ein Einzelfoto tauscht er das Trikot. Das grüne aus Rimpar gegen das rote aus Erlangen-Bruck. "Damit spielt die Mannschaft die ganze Saison", sagt der Handballer, der nie wieder einer sein wird, und deutet auf einen Schriftzug in Bauchhöhe. "Als ich das geschenkt bekommen habe, hab ich zum ersten Mal seit dem Tod meiner Oma wieder ein paar Tränen verdrückt." In Versalien steht da: "Auf geht's Bütti, kämpfen & siegen!"
Viel Kraft weiterhin und alles erdenklich gute!
Alles Gute für die Zukunft, die besten Genesungswünsche für seine Gesundheit und immer viel Kraft und Ausdauer für die Optimierung seines Körpers.
Tobias Büttner ist ein gutes Vorbild für viele andere Menschen!
Herr Büttner, machen Sie es gut und immer Daumen hoch!