Am 3. Februar 2019 war das Leben von Tobias Büttner noch ein anderes. In Atlanta spielten die New England Patriots und Los Angeles Rams die Meisterschaft in der NFL aus, und während des Super Bowls feierte der damalige Handballer mit einem Cousin seinen 26. Geburtstag. An diesem Montag wird Tobias Büttner 27 Jahre alt. Diesmal wird er mit seiner Familie in der Heinrich-Sommer-Klinik in Bad Wildbad Kuchen essen. Es ist ein Rehazentrum für Querschnittgelähmte.
Fast nichts mehr ist heute so, wie es vor einem Jahr war. Seit einem Sturz im Urlaub auf Mallorca am 29. Juli sind beide Arme und beide Beine des Erlangers, der bis vor vier Jahren Leistungssportler beim Zweitligisten DJK Rimpar Wölfe war, teilweise gelähmt. Doch nach anfänglich freiem Fall hat er sich mit einer bemerkenswerten inneren Haltung neuen Boden unter seinen Füßen verlegt. Auf diesem geht er Schritt für Schritt den Weg in sein neues Leben. "Tobi ist unheimlich stark", sagt seine Mutter Andrea Büttner (56). "Wie stark, das hat er vorher vielleicht selbst nicht gewusst."
Als diese Redaktion im Dezember seine Geschichte erstmals veröffentlichte, bekam der Sportler "aus allen Himmelsrichtungen von Handball-Deutschland Zuspruch", berichtet er. "In der Spitze hatte ich 200 unbeantwortete Nachrichten im Handy. Sogar zwei Lehrer aus Karlsruhe haben mich angeschrieben und gefragt, ob ich meine Geschichte vor einer Klasse erzählen würde. Alle waren beeindruckt von meiner Entwicklung. Der Zuspruch hat mir noch mehr Mut und Motivation gegeben."
Es ist der Samstag vor seinem Geburtstag. Tobias Büttner rollt nicht etwa auf Rädern in die Karl-Heinz-Hiersemann-Halle in Erlangen, nein, er kommt an Krücken. Unvorstellbar noch vor wenigen Monaten. "Den Fuhrpark hab ich zu Hause gelassen", scherzt er und verrät, dass er nun einen eigenen Rollstuhl und Rollator besitzt. "Frei laufen übe ich auch schon, das ist noch Roboterstyle. Aber ich bin durch den Leistungssport ja gewohnt, mich zu quälen."
In seinem alten Leben hat er das oft auch in dieser Halle getan. Das letzte Mal war er am 4. Mai 2019 hier: Mit dem TV Erlangen-Bruck stieg er aus der Dritten Liga in die Bayernliga ab. Nun will er sich das Spiel gegen die DJK Waldbüttelbrunn anschauen und seine Mannschaftskameraden mit seinem Besuch überraschen.
Auf Krücken durch den Kabinengang
Begleitet von seiner Mutter, hangelt sich der schmale junge Mann in blauen Jeans, schwarzem Vereinshoodie und schwarzen Sneakers den Kabinengang entlang. Noch etwas unsicher und wacklig, aber unter Aufbietung all seiner Kräfte. Die Anstrengung lächelt er weg. "Zu sehen, wie Tobi mit jedem Schritt kämpft, tut weh", gesteht Andrea Büttner. "Aber ich danke Gott jeden Tag dafür, dass es ihm jetzt so geht, wie es ihm geht." Ihr Sohn sagt: "Es geht mir sehr gut."
Als er die Halle betritt, in der sich seine ehemaligen Mitspieler gerade warmmachen, drehen sich viele Köpfe erstaunt nach ihm um. Trainer Roland Nixdorf eilt auf seinen Schützling zu und herzt ihn väterlich. "Ich bin total geplättet von dieser Überraschung", sagt der Coach. "Die ist ihm gelungen." Büttner nimmt in der untersten Reihe auf der Tribüne Platz und lacht über die verdutzten Gesichter.
Kapitän Mikro Scholten lacht auch, als er auf den Teamkameraden zukommt. Aber in seinen Augen stehen Tränen, als er den Ehrengast drückt. Damit ist er nicht der Einzige. Ein Spieler nach dem anderen beugt sich zu Büttner herunter, um ihn zu umarmen. Mit "Freudentränen" habe er sie beglückt, schreiben die Handballer später am Abend auf ihrer Facebookseite. Sie waren es auch, die Büttner nach seinem Unfall das einzige Mal zum Weinen gebracht haben: Als sie dem Rechtsaußen das Trikot schenkten, mit dem sie seither spielen. Darauf steht: "Auf geht's Bütti, kämpfen & siegen!" Sie tragen es auch gegen Waldbüttelbrunn.
Es ist Büttners zweiter Heimatbesuch, seit er vor knapp zwei Monaten aus der Zentralklinik im thüringischen Bad Berka zur Reha in den Schwarzwald verlegt wurde, der erste über Nacht. "Ich freue mich tierisch darauf, seit über einem halben Jahr mal wieder in meinem eigenen Bett zu schlafen", sagt er. Am Nachmittag war er schon mal in seiner Erlanger Wohnung, in die er nach der Reha voraussichtlich im März erstmals zurückkehren wird. Mit ein paar kleinen Änderungen wie Handläufen und Haltegriffen, so glaubt er, wird er darin zurechtkommen können - ohne fremde Hilfe und im besten Fall auch ohne Rollstuhl. So wie heute.
Der "Klon" seines Vaters
Nicht nur seine Eltern, auch seine Geschwister, ein Cousin und einige Freunde haben ihn in die Halle begleitet. "Tobi ist wie ein Klon von mir", erzählt sein Vater Ralf Büttner (64): "Auch ich war früher Leistungshandballer, auch ich bin Bankkaufmann. Ich sehe mich in meinem Sohn wieder. Und ich habe Hochachtung davor, wie er sein Schicksal meistert." Auch er hat feuchte Augen.
Die von Tobias Büttner bleiben trocken. Sie strahlen. "Es ist unglaublich schön und sehr vertraut, wieder hier zu sein." Während der nicht eben hochklassigen Partie seiner Erlanger gegen die Waldbüttelbrunner gesteht er: "Ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, der Handball fehlt mir nicht." Dann grinst er. "Aber mit Handball hat das hier ja wenig zu tun. Zum Glück muss ich da nicht mitspielen."
Zur Halbzeit steht es 12:11. Zeit für ein Familienfoto. Tobias Büttner steht auf. Seine Beine zittern. Seine Hände an den Krücken auch. Die Spastik. "Ich mache rasante Fortschritte, was meine Bewegung betrifft, kann mich wieder selbstständig waschen und an- und ausziehen. Aber Stehen und Greifen klappt nur sehr langsam besser." Auch die Sensibilität im Körper sei noch nicht ansatzweise vergleichbar mit der eines gesunden Menschen. Beispielsweise habe er in der Blase nach wie vor kein richtiges Gefühl dafür, wie leer oder voll sie sei.
Als er sich Schritt für Schritt Richtung Tor bewegt und die geschätzt 200 Zuschauer bemerken, wer da plötzlich auf dem Spielfeld ist, brandet mehrmals Beifall von den Rängen auf. Wie früher, wenn er ein Tor geworfen hatte. Büttner wirkt nun gerührt. "Der Applaus tut gut. Aber die Zeit, in der ich mich richtig wohlgefühlt habe im Rampenlicht, ist vorbei."
Geheimnis um neue Pläne
Auch sie gehört zu seinem alten Leben. In seinem neuen hat er neue Pläne. Welche will er noch nicht verraten. Nur so viel: "Nicht alle Menschen haben in einem vergleichbaren Unglück so viel Glück wie ich. Nicht alle erfahren so viel Rückhalt und Liebe, nicht alle sind finanziell so gut abgesichert. Ihnen möchte ich helfen."
Einer, der am Wendepunkt in Tobias Büttners Leben dabei war, der seinen Sturz mit ansah im "Megapark" auf Mallorca, der den Eltern aus dem Krankenhaus in Palma am Telefon die Nachricht vom Unfall ihres Sohnes überbrachte ("Das war brutal"), ist an diesem Abend auch da. Michael Fleck ist extra aus München angereist. Der 26-Jährige ist Bankkaufmann wie Büttner, die beiden haben sich 2015 bei einer Fortbildung kennengelernt. Seit dem Schicksalsschlag habe ihre Freundschaft an Tiefe gewonnen. "Sie ist noch intensiver und inniger geworden", sagt Fleck, der den Freund ein "Mentalitätsmonster" nennt: "Wahnsinn, wie Tobi sich zurückgekämpft hat."
Zurückgekämpft nach schwachem Start im Spiel gegen Waldbüttelbrunn hat sich auch Erlangen-Bruck. Als die Schlusssirene in der Karl-Heinz-Hiersemann-Halle ertönt, leuchtet ein 29:28 auf der Anzeigentafel. "Jetzt gibt es Bier", frohlockt Büttner angesichts des knappen Sieges. Seine Teamkollegen tanzen im Kreis, dann rennen sie Richtung Tribüne und scharen sich um ihn. Was sie sagen, ist nicht zu verstehen. Außer diesen zwei Worten: "Für Tobi!" Gemeinsam mit Büttner skandieren sie ihren Schlachtruf "Brooklyn United", dann verschwinden alle in der Kabine.
Michael Fleck erzählt noch, was er seinem Freund nach dem Unfall mit auf den Weg gegeben hat. "Ich hab Tobi gewünscht, dass seine Psyche ist wie ein Eichhörnchen. Dass er jeden Tag etwas Positives sammelt für schlechte Tage - wie ein Eichhörnchen Nüsse für den Winter. Seither frage ich ihn immer, wenn wir uns sprechen, ob er heute schon eine Nuss gesammelt hat."
An diesem Samstag, zwei Tage vor seinem Geburtstag, zu dem er sich nichts wünscht außer weitere Genesung und Geld für den noch geheimnisvollen guten Zweck, antwortet Tobias Büttner lächelnd auf die Frage: "Heute waren es mehr als genug Nüsse. Vom Kopf her fühle mich schon fast wieder wie im normalen Leben." Auch wenn sein neues bereits mit 27 Jahren nie mehr so sein wird wie sein altes.