
Über der Eckbank in der Küche hatte Simone Strobel eine große Landkarte von Australien an die Wand gehängt. Dort, in ihrem Elternhaus in Rieden bei Würzburg, hatte die 25-Jährige mit ihrem Freund Tobias eine einjährige Rundreise durch Australien geplant. Als sie dann im August 2004 aufgebrochen war, markierten ihre Eltern Gabi und Gustl Strobel mit einer Stecknadel jeweils den Standort ihrer Tochter. Eine steckt auch im Punkt für das Städtchen Lismore an der Ostküste, rund 700 Kilometer nördlich von Sydney. Es sollte die letzte Nadel sein. In Lismore wurde Simone am 11. Februar 2005 ermordet.

20 Jahre später bitten Vater Gustl und Simones Bruder Alexander in Rieden ausgerechnet auf jene Eckbank zum Gespräch mit der Redaktion. Seit 20 Jahren ist Simone Strobels Tod ein ungelöstes Rätsel. Doch in diesem Haus ist die junge Frau so präsent, als lebe sie noch immer hier und käme im nächsten Moment ins Zimmer. Die Erinnerungen an ihre Tochter halten Mutter Gabi wach, der Simone in Aussehen und Wesen so ähnlich war, und ihr Vater Gustl, von dem sie die Ehrlichkeit hatte und das entschlossene Zupacken. Bilder an den Wänden zeigen ein sympathisches Mädchen mit hellwachen Augen und einem schüchternen Lächeln, das Gitarre und Tennis spielte.
Der Verlust schmerzt. Bis heute. Jeden einzelnen Tag. Simone sei ein Familienmensch gewesen: "Sie hinterließ uns an unerwarteten Stellen kleine Notizen, Gedicht-Zeilen, sentimentale Gedanken", sagt die 72-jährige Gabi Strobel: "Sie war stark und hatte ihre Meinung, aber wenn es Streit gab, rief sie später an, um sich zu entschuldigen."
Der letzte Anruf kam wenige Tage vor Simones Tod
Zwar versetzt jeder Zeitungsartikel, jeder TV- oder Radiobeitrag über den Tod der Tochter der Familie einen Stich. Doch die Strobels sind sich schmerzhaft bewusst: Die Berichte halten die Erinnerung wach. Und: Öffentliche Aufmerksamkeit zwingt die Behörden, nicht nachzulassen im Bemühen, den Mord an Simone doch noch aufzuklären. Deshalb lässt die Familie ausnahmsweise den Reporter ins Haus, in dem sie sonst am liebsten mit ihrer Trauer für sich alleine ist.
"Der Kontakt nach Hause war Simone wichtig", sagen die Eltern. Die Erzieherin habe während ihrer Reise regelmäßig E-Mails geschickt, Karten geschrieben, sich zu Geburtstagen gemeldet. Immer wieder habe sie auch angerufen.

An das letzte Telefonat am 9. Februar 2005 erinnert sich der heute 72-jährige Gustl Strobel genau. "Es ist so schön hier, Papa!", habe sie geschwärmt. Sie vermisse zwar die Menschen und das Essen daheim. Aber sie komme ja zurück – jetzt lebe sie erstmal ihren Traum.
Mit einem Kissen erstickt und versteckt
Die nächsten Anrufe aus Australien werden für die Strobels zum Beginn eines jahrelangen Alptraums. Drei Tage später habe Simones Freund mitten in der Nacht angerufen, erzählt Alexander Strobel. "Simone ist weg", habe Tobias gesagt. Und dann der furchtbare Anruf sechs Tage darauf: In Lismore sei unter Palmzweigen versteckt eine Leiche gefunden worden.

Simone wurde vermutlich mit einem Kissen erstickt. Nackt abgelegt, unweit des Campingplatzes, wo sie übernachten wollten. Warum und von wem? Darauf gibt es bis heute keine abschließenden Antworten – wenngleich Simones Freund rasch unter Verdacht geriet und australische Ermittler sicher sind, dass Tobias der Täter ist. Doch forensische Beweise fehlen.
Dass Tobias, mit dem Simone bereits seit sechs Jahren zusammen war und der aus dem Landkreis Main-Spessart stammt, etwas mit dem Tod zu tun haben könnte, habe er sich anfangs nicht vorstellen können, sagt Alexander Strobel. "Tobias hat mir leidgetan", erinnert er sich an die Tage nach dem Mord.
Simones Bruder ist damals nach Australien geflogen, um ihren Leichnam nach Hause zu überführen. Die Reise beschreibt er heute als "surreal": "Ich saß in der Abflughalle zwischen Backpackern mit ihren Rucksäcken und Geschäftsreisenden", sagt er, "und ich hielt einen braunen Umschlag in den Händen, in dem die Zahnarztunterlagen meiner Schwester waren". Die medizinischen Befunde dienten zur Identifizierung der Leiche.

Als Alexander Strobel in Australien auf Tobias sowie auf dessen Schwester und deren Freund traf, die beiden hatten sich dem Paar wenige Tage vor Simones Verschwinden angeschlossen, deutete für ihn nichts darauf hin, dass Tobias etwas mit Simones Tod zu tun haben könnte. Heute erscheinen die Gespräche von damals in einem anderen Licht. Je mehr Fakten bekannt wurden, desto größer wurden die Zweifel. Alexander Strobel fragt sich etwa, warum Tobias und seine Schwester damals in Australien beinahe krampfhaft betonten, wie harmonisch die Reise lief, wie glücklich sie miteinander waren.
Haben Simones Reisbegleiter wirklich nach ihr gesucht?
Erst später wurde bekannt, dass es Spannungen zwischen Simone und Tobias gab. "Es fiel damals kein Wort über den seit Tagen schwelenden Streit, so heftig, dass sie einander aus dem Weg gingen. Das konnten wir erst in den sichergestellten Tagebüchern von Simone und Tobias später nachlesen", erzählt Alexander Strobel.
Es ist nur eine von vielen Ungereimtheiten in diesem Fall. Immer mehr Details wurden bekannt. Langsam wuchs der Verdacht: Haben Simones Reisebegleiter wirklich in der Nacht ihres Verschwindens nach ihr gesucht? "Wenn meine Freundin nachts verschwunden wäre, würde nach einer halben Stunde der halbe Campingplatz mitsuchen und die andere Hälfte könnte wegen des Lärms nicht mehr schlafen", sagt Alexander Strobel. Aber er weiß von Ermittlern: "Niemand hat in der Nacht etwas von einer angeblichen Suche bemerkt."

Früher habe er nur schwer über den Schicksalsschlag sprechen können, "heute tut es eher gut", sagt Gustl Strobl. Wenn der Mann mit dem festen Händedruck vom Mord an seiner Tochter spricht, mischen sich Zorn und Unverständnis in seiner Stimme.
Simones Vater konnte kein Licht ins Dunkel bringen
Wie ein Hobby-Ermittler versuchte er, aus Simones Freund und dessen mitgereisten Schwester selbst etwas herauszubringen. Aber Tobias verschwand erst nach Südafrika, mittlerweile lebt er mit seiner Frau und den drei Kindern in Australien. Als Gustl Strobel Tobias' Schwester zur Rede stellte, habe sie gerufen "nicht mal unter Folter" wolle sie wieder über Simone reden und sei davongefahren.
Als die australische Polizei 2022 Tobias unter Mordverdacht festnahm, erzählt Alexander Strobel, hätten ihm Bekannte gratuliert: "Endlich ist er gefasst!" Simones Bruder blieb skeptisch und wehrte ab: "Wozu gratuliert Ihr? Es gibt doch nur Verlierer in dem Fall." Er sollte recht behalten; zu einem Prozess kam es mangels Beweisen bis heute nicht.
Natürlich hatten auch sie gedacht: "Wenn die jetzt so einen Riesen-Aufwand betreiben, dann müssten sie doch auch was in den Händen haben", erinnert sich Alexander Strobel. "Doch dann hieß es: Prozess abgesagt. Das war drei, vier Tage die Hölle für uns."
Simones Eltern betäubten sich mit Arbeit
Es sollte nicht die letzte Enttäuschung bleiben. Überraschend setzte die australische Justiz im November 2024 eine fünftägige öffentliche Anhörung in Sydney an, bei der alle relevanten Fakten im Fall Simone erörtert werden sollten. Alexander Strobel flog mit seiner Schwester Christina nach Sydney – abermals kehrten sie ohne Antworten zurück.

Tobias, der vor Ort war, "trug nicht das Geringste bei", sagt Alexander Strobel. "Im Gegenteil: Er verweigerte die Aussage, ging uns aus dem Weg und gerierte sich, als sei er die verfolgte Unschuld!"
Beim Verlassen des Gerichtsgebäudes beschrieb Christina vor australischen Fernsehkameras, was der Tod ihrer älteren Schwester und die Ungewissheit für Auswirkungen hatten: "Meine Eltern wurden zu bloßen Schatten ihrer selbst und versanken immer tiefer in Verzweiflung." Gustl Strobel erinnert sich mit einem markanten Satz an die ersten Jahre nach dem Tod der Tochter: "Wir haben uns mit Arbeit betäubt", sagt der Landwirt. Die Strobels haben sich auch mithilfe des Alltags zurück ins Leben gekämpft und ein kleines Leuchten kehrt in die Augen zurück, wenn Alexander Strobel davon erzählt, wie die Geburt der Enkel seinen Eltern "wieder ein wenig Licht ins Leben brachten".
Ob die Ermittlungen in Australien weitergehen, soll sich in den nächsten Wochen entscheiden, heißt es aus Sydney auf Anfrage der Redaktion.
Was der Familie zuletzt in ihrem Leid half: "So viele Menschen haben an Simone am 11. Februar gedacht in Wort, Schrift und Blumen und natürlich die große Gruppe bei der Gedenkfeier in Australien", sagt Simones Mutter Gabi dankbar. "Das hat uns alle sehr berührt."

Dass die Bürger von Lismore zum 20. Todestag eine Gedenkfeier für Simone veranstalteten, bedeutet den Strobels viel. Gabi Strobel hat dazu eine Grußbotschaft nach Australien geschickt: "Gott begegnet uns im Alltag, im Lächeln der anderen, im Staunen über das Kleine, im Innehalten, aber auch im Erschrecken über die Rücksichtslosigkeit anderer Menschen", schrieb die gläubige Katholikin vielsagend.
Mit Gott gehadert, aber im Glauben Halt gefunden
Überhaupt, Gott: Der Glaube spielte bei den Strobels immer eine große Rolle. Doch nach Simones Tod "waren wir im Glauben erschüttert", sagt Gustl Strobel. Er bete abends oft, sagt sein Sohn Alexander. "Damals habe ich auch gebetet, dass Simone heil aus Australien zurückkommt. Und dann passiert genau das Gegenteil. Es hat lange gedauert, bis ich wieder beten konnte", bekennt er.

Heute ist der Glaube eines der wenigen Dinge, die den Strobels noch Kraft geben. "Das viele Auf und Ab, da stumpft man ab", sagt Gustl Strobel. Aber der Zusammenhalt und die Offenheit in der Familie, das sei nicht selbstverständlich. "Andere Familien zerbrechen an sowas. Dass wir noch so ticken, wie wir ticken, ist ein Wunder."
Doch auch 20 Jahre später gibt es sie noch, die Momente, in denen die Erinnerung Simones Familie fast erdrückt und die Kehle zuschnürt: Vor Simones Aufbruch nach Australien unternahm die Familie einen letzten Ausflug mit ihr. An den Kreuzberg in der Rhön. Zum Gedenken an Simone fahren Gabi und Gustl Strobel immer wieder zur dortigen Wallfahrtskirche.
Einmal kamen sie dort mit fremden Pilgern ins Gespräch. Die fragten, wo sie herkommen. "Aus Rieden", antworteten die Strobels. Da sagten die Fremden: "Rieden? Ist das nicht das kleine Dorf, aus dem dieses in Australien ermordete Mädchen kommt?"
Reporter Manfred Schweidler über die Recherche
