
Erst ein milder, nasser Frühling. Dann heiß und trocken. 2018, der Jahrhundertsommer. Was Menschen teils zum schweißüberströmten Stöhnen brachte, war für Trauben vielerorts in Franken ideal. Schnell begann die Jagd nach den Superlativen. Die früheste Weinlese aller Zeiten. Der höchste Ertrag seit zehn Jahren. Und ein besonders guter Rebensaft – oder gar der beste?
So einfach lässt sich das nicht feststellen. "Ein Pauschalurteil ist unseriös", sagt der international renommierte Weinkritiker und Autor Stuart Pigott. Die Hitze 2018, das seien auch für Reben extreme Bedingungen gewesen. Je nach Lage in der Region, seien sie "sehr unterschiedlich" mit der Situation zurecht gekommen. Einige "besonders gelungene Weine" habe Franken aber hervorgebracht.
Rückblick: Wie lief die Lese des vermeintlichen Jahrhundertweins?
Ein Freitagmorgen, mitten im September 2018. Die Weinlese ist bereits fast abgeschlossen. Ungewöhnlich. Rekord. "So früh war das noch nie, never ever", sagt Martin Göbel. Er führt das Weingut Göbel, ein Familienunternehmen in Randersacker (Lkr. Würzburg), das es seit 1603 gibt.
In dem kleinen Ort füllen sich um kurz vor acht Uhr langsam die engen Gässchen. Brötchenholer, Gassigeher, Frühaufsteher. Auch in der Friedhofstraße herrscht bereits Trubel. Der Grund: Es ist auch für das Weingut Göbel der letzte Tag der Weinlese. Um acht Uhr geht es los in den Weinberg. Zum Merlot. Rote Trauben, mitten im Frankenland.
"Den Merlot hier haben wir 2002 gepflanzt", sagt Martin Göbel. Das ist noch immer selten. "Franken ist ganz klar ein Weißwein-Gebiet." Auch bei ihm sei der Rote mit 20 Prozent eher eine Nischen-Weinsorte.

Im Eiltempo füllen die Helfer ihre Eimer mit den Trauben. Meist wird die Weinlese – sofern der Weinberg und die Lage es erlauben – heute maschinell erledigt. Mit Vollerntern, die über die Reihen von Rebstöcken hinwegfahren. Bei Göbel ist es anders. "Wir lesen jeden Weinberg mit der Hand, um genau zu sehen, welche Trauben reif und gesund sind, und welche eben nicht."

Die Rollen sind klar verteilt. Während die Mehrzahl der Helfer an den Rebstöcken pflückt, transportieren zwei Buttenträger die Trauben zum Unimog. "Das geht ganz schön in die Beine", gibt Göbel zu. Für ihn und seine 16 Helfer heißt es am frühen Vormittag Feierabend, im Wortsinne. Traditionell besiegelt das Team mit Kränzen aus Weinblättern und einem Glas Federweißer den Abschluss der Lese.
Nicht nur Martin Göbels Fazit der Lese 2018 ist positiv. Auch der Fränkische Weinbauverband schwärmt: Entspannt, unaufgeregt und schnell sei die Lese gelaufen. Innerhalb von nur drei Wochen waren die Weinberge leer. Und: Das erste Mal sei der Silvaner vor Müller-Thurgau und Bacchus gelesen worden – denn früh reifende Rebsorten hatten mit der Hitze zu kämpfen.
Der Müller-Thurgau beispielsweise, "das ist nicht die Rebsorte, die den Klimawandel mitmachen wird", sagte Hermann Kolesch, Präsident der Bayerischen Landesanstalt für Wein- und Gartenbau (LWG). Gewinner sind laut Weinbauverband dafür der Silvaner, andere spät reifende Trauben und rote Rebsorten. "Die waren 2018 voll dabei", so Hermann Mengler, Fachberater für Kellerwirtschaft und Kellertechnik vom Bezirk Unterfranken.
Ähnlich sieht es Weinexperte Stuart Pigott. Rotweine, so seine Vermutung, werden "in Franken weiter nach vorne marschieren". Auch auf bekannte Weinbaulagen könnte sich das auswirken, wie etwa den wärmsten Teil vom Würzburger Stein. "Wenn das meine Weinberge wären, würde ich auf rot umstellen", so Pigott.
Was sagen andere Jungwinzer über den Jahrhundertsommer?
Was aber passiert eigentlich mit den Trauben, wenn die Lese geschafft ist? Und was tun die Winzer? Sie werden quasi Kellerkinder. Martin Göbel lacht. Ein großer Teil seines Jobs ist für Weinliebhaber unsichtbar: die Arbeit im Weingut. Dort werden die gelesenen Trauben zunächst maschinell "entrappt“, also von den Stielen getrennt und anschließend in einer Mühle zerdrückt.
So entsteht ein dickflüssiges Gemisch: die Maische. Sie muss gären. Während dieser Zeit werden bestimmte Stoffe, welche die spätere Farbe und den Geschmack des Weines beeinflussen, freigesetzt. Abhängig von der Sorte und den gewünschten Ergebnissen, kann sich die Maischestandzeit stark unterscheiden.

Wie lange dauert sie bei Martin Göbel? "Das mache ich nach Bauchgefühl, das hat mich noch nie getäuscht", sagt der junge Winzer. Betriebsgeheimnis also. Zwei bis dreimal am Tag mischt er die roten Trauben durch. So gelangen Farbstoffe, pflanzliche Gerbstoffe und Aromastoffe in den Most. Später wird die Maische in einer Weinpresse, der Kelter, ausgepresst.
Die festen Traubenrückstände, auch Treber oder Trester genannt, trennen sich vom süßen Saft. Zwei Stunden dauert das etwa. Der trockene Trester findet den Weg zurück in die Weinberge und dient als Nährstoff-Lieferant für den Wein der nächsten Saison. "So schließt sich der Kreislauf", sagt Martin Göbel.
- Lesen Sie auch: Was macht eigentlich ein Wein-Profiler?
- Weinlese 2019: Winzer erwarten geringere Wein-Ernte
Für den Most heißt es jetzt gären. Gelagert wird er dazu in speziellen Tanks, um die Temperatur ideal bei 15 bis 18 Grad zu halten. Am Ende lässt man die abgestorbene Hefe absinken und der Wein wird abgezogen oder abgestochen. Nun hat der Jungwein seine Ruhe und kann reifen. Und das dauert.
Warum Winzer keine Platzangst haben sollten
Mittlerweile ist es Oktober. Seit sechs Uhr ist Martin Göbel im Keller. In Gummistiefeln und wasserfester Hose reinigt er Schläuche, putzt, säubert. In Standrohren an den Stahltanks steht der noch trübe Silvaner. Fünf Oechsle hat der Wein mittlerweile erreicht, der Gehalt ist in winziger Schrift auf einem Zettel an jedem Tank dokumentiert.
Die Hefe hat sich mittlerweile am Boden der Tanks als zäher, gelber Brei abgesetzt. Die Flüssigkeit darüber kann nun abgepumpt und in einen anderen Tank gefüllt werden. Dazu verbindet Göbel den Tank im Gärkeller mit einem anderen im Lagerkeller. Aufdrehen. "O’zapft is", grinst der Winzer. Schnell fließt die gelbliche Flüssigkeit von einem Keller zum anderen. 5000 Liter schafft die Pumpe pro Stunde.
Nach gut zehn Minuten ist der kleine Tank voll. "Aufpassen", sagt Göbel. Plötzlich spritzt weißer Schaum aus dem Einfüllstutzen. Göbel rennt zur Pumpe und schaltet sie ab. Geschafft. Fast. Der Sprung in den Tank steht noch aus, die Resthefe muss abgezogen werden. Göbel zieht sich eine schwarze Gummischürze über, grinst ein bisschen gequält. Bewaffnet mit Bürsten und Besen klettert der Winzer durch die runde Tanköffnung, mitten in den gelben Hefebrei.
"Ein bisschen wie in einer Waschmaschine fühlt man sich drinnen", so Göbel. Dann spritzt es in alle Richtungen und der Brei schwappt in eine Wanne. Später wird er zu Schnaps verbrannt. Göbel reinigt den Tank akribisch, spült jede Ecke mit heißem Wasser nach. Platzangst sollte man als Winzer nicht haben. Dafür jede Menge Geduld. Denn nun muss der Wein erneut lagern. Und Reifen.
Bis zum Abfüllen wird nun jeden Monat probiert. Martin Göbel sitzt auf der Eckbank in seiner kleinen Weinstube. Langstielige Gläser und den Spucknapf vor sich. Und zwei Flaschen des Jahrgangs 2018, einen Silvaner vom Pfülben und einen Merlot. Wie wird der als Superjahrgang gefeierte Wein schmecken?
Zuerst ist der Weißwein dran. Göbel gießt ein, prüft die Farbe, riecht. "Leicht fruchtig, etwas nach Birne, passt." Dann der erste Schluck. Auch beim Merlot begutachtet der Winzer erst die Farbe, "recht dunkel und noch nicht so klar".

Die Nase aber ist zufrieden: "Das ist ein klassisches Cassis-Aroma". Göbel nimmt einen Schluck, schmeckt und spuckt in den Napf. "Holla die Waldfee." Noch habe der Wein unheimlich viele Bitterstoffe, die ihn füllig machen. "Der braucht Zeit", so Göbel. Die soll er aber auch bekommen. "Weil es ein schwerer Rotwein werden soll, will ich ihn erst in drei Jahren abfüllen."
Doch zurück ins vergangene Jahr. Es ist Februar. Im Weinhandel ist Göbels Wein immer noch nicht. Er ruht noch in Randersacker. Mittlerweile sieht er zwar klar aus, doch noch immer schwimmen winzige Hefezellen darin. Per Filtration sollen diese nun herausgefischt werden. "Für den Wein bedeutet das Stress", sagt Martin Göbel.
Genutzt werden dazu spezielle Filter aus mehreren Zelluloseschichten, die so kleine Poren haben, dass darin die Hefezellen ausgesondert werden. Der filtrierte Wein wird dann erneut in einem Tank gelagert – ohne, dass Luft daran kommt.

Mehrere Monate nachdem die Trauben im Weinberg gelesen wurden, ist es dann geschafft: Über Schläuche wird der fertige Wein zur Abfüllmaschine geleitet. Dort werden die Flaschen gespült, mit Wein befüllt, mit einem Drehverschluss versehen und in Kisten eingelagert.
Vier bis sechs Helfer sind fürs Abfüllen insgesamt nötig, einige kennen sich von der Weinlese im September. Sie gehören zur sogenannten Stammbesetzung von Martin Göbel. "Never change a winning team", meint er dazu. Alle suchen sich ihre Position an der großen Maschine. "Eine Runde Alkohol, bitte", ruft Mitarbeiterin Christel und schon geht es los.
An diesem Dienstag im kalten Februar finden 7000 Flaschen Scheurebe, Müller-Thurgau und Muskateller ihren Weg in die Kisten. "Das ist schon irgendwie der emotionalste Moment der Weinherstellung", so Göbel. Noch einmal erinnere er sich dabei an das vergangene Jahr – von der Arbeit am Weinberg bis zu dem Moment, wenn er die erste Flasche in der Hand hält.

Bleibt die Frage: Was macht eigentlich einen guten Wein aus – oder gar einen Jahrhundertwein? Generell sei nicht immer ein starker Wein auch ein guter Wein, sagt Weinexperte Stuart Pigott. "Was heraussticht aus der Masse, sind Weine, die eine besondere Balance haben, bei denen alle Geschmackselemente zueinander passen."
Für Martin Göbel trifft all das auf den 2018er zu. Vor allem die Vielfalt zeichne den Weinjahrgang aus, sagt der Winzer aus Randersacker. Die Chance für Weinliebhaber, den persönlichen Jahrhundertwein im 2018er Sortiment zu entdecken, dürfte also relativ groß sein.
