
Er dachte, es ginge bergauf bei seinem besten Freund. Er hatte doch gerade erst eine Ausbildung begonnen, im Rhöner Nachbarort. Dass Josef seine Probleme gehabt habe in Bad Neustadt, ja. Das habe er gewusst, sagt Marcel Bernhardt. Aber sein Freund habe sie immer selbst regeln wollen.
Selbst wenn er ihn hätte davon abhalten wollen, sich mit den Jungs zu treffen – Marcel Bernhardt ist sich sicher, er hätte es nicht geschafft. Sein Freund Josef, ein Sturkopf eben. Ein starker Charakter, mit einer großen Klappe.
Marcel Bernhardt hätte seinem besten Freund gerne geholfen. Aber der 34-Jährige konnte nicht helfen. Und die, die es gekonnt hätten, haben es nicht. Am frühen Morgen des 22. November 2021 finden Fußgänger die Leiche des 26-jährigen Josef D. an einem Radweg in Bad Neustadt. Wenig später schon werden die Ermittler wissen: Er kam gewaltsam zu Tode.
Marcel Bernhardt sagt heute: "Ich habe ihm gesagt, dass er sich gut überlegen soll, wer seine Freunde sind. Ich hatte da schon eine gewisse Vorahnung. Doch er konnte die Gefahr nicht einschätzen, weil er dachte, es seien seine Freunde."
Die Stadthalle Schweinfurt dient dem Gericht als Sitzungssaal
Fast ein Jahr später, 27. September 2022, kurz nach 9 Uhr. Die drei Angeklagten werden hineingeführt in den großen Saal der Stadthalle in Schweinfurt, die für diesen Prozess als Sitzungssaal dienen soll. Zu klein sind die Räumlichkeiten des Landgerichts Schweinfurt, mit so vielen Prozessbeteiligten. Drei Angeklagte, mindestens zwei Anwälte für jeden von ihnen, Nebenklage, zahlreichen Zuschauerinnen und Zuschauern. Der Saal ist gefüllt, einige sind nicht einmal hineingekommen.

Alle Augen sind auf die drei jungen Männer gerichtet. Der eine hält sich einen Aktenordner vor das Gesicht, einer hat die schwarze Kapuze seines Pullovers über den Kopf gezogen, bei dem Dritten wandern die Augen durch den Saal.
In diesem Text heißen sie Kai, Marvin und Nico. Ihre wirklichen Namen sind andere.
Die Luft im Saal ist spannungsgeladen. Und so still ist es - man könnte hören, wenn eine Nadel zu Boden fiele.
Eine Stimme ruft: "Du sollst dazu stehen, was du getan hast, und dich nicht verstecken." Es ist Marcel Bernhardt, der nicht anders kann bei dem Anblick der drei Männer, als seinen Gefühlen freien Lauf zu lassen. Rückblickend weiß er, dass das falsch war. "Ich darf nichts sagen, sonst darf ich nicht mehr bei der Verhandlung dabei sein."
Am letzten Prozesstag wird er wieder rufen: "Feigling!"
Marcel Bernhardt schaut zu, wie über den Tod seines besten Freundes verhandelt wird
Also schaut Marcel Bernhardt zu, wie über den gewaltsamen Tod seines besten Freundes verhandelt wird. Schaut zu, wie Bilder der Obduktion von Josef auf der großen Leinwand in der Stadthalle über dem Richterpult erscheinen, das Gesicht blass, die Lippe blutig. Marcel Bernhardt schließt die Augen, "ach du Scheiße". Im Nachgang wird er sagen: "Ruhig schlafen kann man da nicht, weil man das Bild nicht mehr rauskriegt."
So oft er kann, ist er im Gericht dabei, weil Josef selbst nicht da sein kann.
Wie es für ihn ist, die mutmaßlichen Täter vor Gericht zu sehen? "Ich koche innerlich", sagt der 34-Jährige. "Eine Entschuldigung ist nicht viel wert, er ist nicht mehr wiederzuholen, aber ein bisschen Empathie hätte man sich da schon gewünscht."
Drei junge Männer wegen Mordes und Beihilfe zum Mord angeklagt
Die Staatsanwaltschaft wirft zwei der jungen Männer Mord vor, dem Dritten Beihilfe zum Mord. Alle drei sollen für den grausamen Tod von Josef D. verantwortlich sein. Der 19-jährige Kai räumt die vorsätzliche Tötung von Josef D. am ersten Prozesstag ein. Von Mord ist in seiner Einlassung, die seine Verteidiger vortragen, keine Rede.

Seine Mitangeklagten, Marvin und Nico, beide 21 Jahre alt, sitzen in er Tischreihe hinter ihm. Als deute schon diese Anordnung ganz subtil darauf hin, was sich im Verlauf der Verhandlung immer stärker herauskristallisieren wird: In diesem Prozess wird es vor allem um einen gehen – um Kai.
Der 19-Jährige sitzt am Tisch mit seinen Verteidigern. Den rasierten Kopf gesenkt, die Hände ineinander gefaltet. Kein Wort aus seinem Mund. Erst am sechsten Tag, nach den Plädoyers, wird er sprechen. "Ich bin kein großer Redner", sagt er da. "Ich bereue meine Tat extremst und akzeptiere die Konsequenzen. Mein Brief war zwar kurz, aber alles war genauso gemeint, wie ich es geschrieben habe."
Josef D. wollte eigentlich nur 30 Minuten weg
Kai ist derjenige, der Josef D. am 21. November 2021 gegen 22.30 Uhr mit mehreren Messerstichen getötet haben soll. Marvin, so steht es in der Anklage, soll von seinem Vorhaben, den 26-Jährigen zu töten, gewusst und Kai bei der Tat - mit zwei Messern bewaffnet - begleitet haben. Bei Nico hätten sich die beiden noch ein weiteres Messer ausleihen wollen.
Während der Tat, so steht es auch in der Anklage, habe Kai gesagt, man müsse es jetzt auch zu Ende bringen. Sonst zeige Josef D. sie noch wegen Körperverletzung an.
Josef D. will am 21. November 2021 wohl eigentlich nur Cannabis kaufen. Um sich zu beruhigen, weil es ihm nach einem Streit nicht gut geht. Er hat zwei Freunde zu Besuch, als er abends mit dem Fahrrad losfährt, um sich kurz mit Kai und Marvin zu treffen. Sie haben versprochen, ihm Drogen zu organisieren. Eine halbe Stunde, dann will Josef wieder zurück sein.

22. November 2021, Marcel Bernhardt ist gerade aus dem Krankenhaus entlassen worden und liest die Nachricht im Internet: 26-jähriger Radfahrer tot aufgefunden.
"Hoffentlich nicht der Josef", habe er sich gedacht. Abends habe er einen Freund angerufen. Habe gesagt, er erreiche Josef nicht. Und der Freund habe auch gesagt, er auch nicht. Dann habe er Josefs Ex-Frau angerufen. "Das war so ein Instinkt von mir", sagt Marcel Bernhardt. "Und ich habe sie gefragt, ob ich mit meinem Bauchgefühl richtig liege."
Ihre Antwort: "Marcel, leider ist es wahr, das war Josef."
Sie haben sich in einem Kinderheim kennengelernt, Josef war 12, Marcel 20. Seither hatten sie regelmäßig Kontakt, erzählt der 34-Jährige. Mal telefonierten sie, an den Wochenenden besuchte Josef Marcel in Bad Königshofen. Josef habe ihm Dinge anvertraut, die er sonst kaum jemandem anvertraut habe. Ein fast familiäres Verhältnis.
Keine zwölf Stunden nach dem Leichenfund gibt es drei Verdächtige
Im Anschluss an die Tat im November 2021 muss es wohl eine Absprache gegeben haben, was man der Polizei erzählen würde. Kai, so erzählen es Zeugen aus Bad Neustadt vor Gericht, habe gesagt, "die werden das Messer eh nie finden". Er habe offenbar gedacht, es komme nie raus.
Keine zwölf Stunden, nachdem die Leiche gefunden wurde, haben die Ermittler drei Tatverdächtige festgenommen: Kai, Marvin und Nico. Es folgen die ersten Aussagen, in denen sich die drei Männer in Widersprüchen und absurden Geschichten verstricken.
Kai erklärt etwa, dass das Blut an seinen Schuhen daher komme, dass er sich selbst nicht die Schuhe binden könne. Josef D. hab das für ihn gemacht. Und weil er kurz zuvor mit dem Fahrrad gestürzt sei, habe er wohl geblutet. Warum sich Marvin das Messer lieh? Er habe seiner Freundin etwas zu Weihnachten schnitzen wollen.
Erst später schildern die Beteiligten, was sich wirklich abgespielt haben soll.
Für den Anwalt der Nebenklage das "Empathieloseste, das ihm je begegnet ist"
Als Anwalt der Nebenklage, Anwalt der Hinterbliebenen, kennt man normalerweise bei einem Tötungsdelikt das Opfer nicht. Bei Jörg Meringer ist das anders. Er kenne Josef D. aus Hof, wo dieser mal gelebt habe, sagt Meringer. Woher genau, das führt er nicht aus.
Josef sei kein unbeschriebenes Blatt gewesen. Aber: "Ich habe ihn als liebenswerten, auf Leute zugehenden, aber auch naiven Menschen kennengelernt", sagt der Anwalt in seinem Plädoyer. Diese Naivität habe wohl dazu beigetragen, dass der 26-Jährige auf die Täter hereingefallen sei. Für ihn sei die Tat menschenverachtend und das "Empathieloseste, das er je erlebt hat", sagt Meringer. Man habe Josef D. ausbluten lassen, wie ein Schwein.
Josef D. ist zweifacher Vater. "Zwei kleine Kinder, die ohne ihren Vater aufwachsen", sagt Meringer. "Nie mehr wird er abends heimkommen, nie mehr wird er etwas mit ihnen unternehmen können." Seine Ausführungen führen dazu, dass auch Marvin, der sonst viel Zeit vor Gericht damit verbringt, Blickkontakt mit dem Publikum zu halten, beschämt nach unten sieht.
Einen Monat nach Prozessbeginn spricht das Landgericht das Urteil
Am 27. Oktober 2022, genau einen Monat nach Prozessbeginn, fällt das Urteil in der Stadthalle. Die Große Jugendkammer des Landgerichts Schweinfurt sieht die drei Männer schuldig des Mordes beziehungsweise der Beihilfe zum Mord. Sie verurteilt den 19-jährigen Kai wegen Mordes zu einer Freiheitsstrafe von 13 Jahren nach Jugendstrafrecht. Die Kammer sieht die besondere Schwere der Schuld gegeben und beantragt den Vorbehalt der Sicherungsverwahrung. In das Urteil fließen auch frühere Urteile mit ein.
Der 21-jährige Marvin wird – ebenfalls wegen Mordes – zu einer Freiheitsstrafe von zwölf Jahren und sechs Monaten nach Erwachsenenstrafrecht verurteilt. Nico, der den beiden anderen ein Messer geliehen haben soll, muss für drei Jahre und sechs Monate nach Jugendstrafrecht in Haft.

Verteidiger Jörg Meringer zeigt sich zufrieden. Der Anwalt, der in der Nebenklage die frühere Frau von Josef vertritt, spricht von einem "sehr sorgfältigen Urteil". Aber er sagt auch, dass es in so einem Fall kein gerechtes Urteil gebe. "Egal, welches Urteil man hier fällt, kein Urteil kann meiner Mandantin den Vater ihres Kindes zurückbringen."
Marcel Bernhardt kann das Urteil akzeptieren
Viele Zuschauerinnen und Zuschauer sind zur Urteilsverkündung gekommen, darunter auch Marcel Bernhardt. Er diskutiert nach der Verhandlung mit zwei Frauen, die auch wegen Josef da sind, über die Entscheidung. Für die Frauen ist das Urteil nicht hart genug, "da sieht man mal, was ein Menschenleben wert ist", sagen sie.

Marcel Bernhardt kann das Urteil akzeptieren. "Vor allem der Vorbehalt der Sicherungsverwahrung ist wichtig", sagt er. "Ich hoffe, die geht durch."
Marcel Bernhardt ist Poetry Slammer und schreibt Texte, um seine eigene Vergangenheit und auch den Tod von Josef zu verarbeiten. Am Tag der Urteilsverkündung schreibt er auf Social Media: "Josef, du wirst niemals vergessen, egal zu welcher Zeit, egal an welchem Ort. Ich bewahre dich in meinem Herzen."
Wie die Autorin die Recherche erlebt hat

Daneben kritische Anmerkung - warum so ein großes Porträtfoto der Autorin ?
Freundliche Grüße
Lukas Will
Digitales Management