
Freitag, 16. März 1945: Auf dem Stützpunkt Skellingthorpe, etwa 250 Kilometer nördlich von London, hebt um 17.14 Uhr eine viermotorige Maschine der Royal Air Force ab. Gesteuert wird die Avro Lancaster I RF176 von Pilot Henryk Boleslaw Grynkiewicz (27 Jahre), mit an Bord sind die Flugsergeants Walter Milton Ratcliffe (19), John Lewis Jones (22), Eric John Day (23), Eric William Gibbs (22), Gordon Edward Gwalter (30) und Edmund William Browne (23). Sie alle gehören der Bomber Group No. 5 an, die als das präziseste Geschwader im Luftkrieg gegen Deutschland gilt.

Lieutenant Grynkiewicz landet wenig später zunächst auf dem Flugplatz von Reading, der sich etwa 70 Kilometer westlich von London befindet. Dort sammeln sich über 500 Flugzeuge britischer Elite-Staffeln, die von den Oberbefehlshabern der Royal Air Force den Auftrag erhalten haben, deutsche Städte zu attackieren. Durch großflächige Bombardements sollen sie die Moral der Deutschen schwächen und den Krieg schneller beenden. Als sich der Bomberverband formiert hat, starten 280 Maschinen der Bomber Groups No. 1 und No. 8 in Richtung Nürnberg – 225 Maschinen der Bomber Group No. 5 und elf Mosquitos der Pathfinder Force nehmen Kurs auf Würzburg, unter ihnen die Lancaster RF176.
Um die deutsche Luftabwehr zu täuschen, fliegen die Piloten ihre Ziele nicht direkt an. Über französisches Territorium drehen sie erst eine weite Schleife, bevor sie sich ihren Zielen von Süden aus nähern. Der Angriff auf Würzburg beginnt um 21.25 Uhr mit dem Abwurf von Leuchtbomben, wegen ihrer Form „Christbäume“ genannt, die die im Dunkeln liegende Stadt erhellen sollen. Ab 21.35 Uhr fallen 256 tonnenschwere Sprengbomben und Luftminen, um die Häuser abzudecken. Dann gehen mehr als 300 000 Stabbrandbomben auf Würzburg nieder. Bis zu 5000 Menschen sterben in dem Inferno, die historische Altstadt wird zu 90 Prozent zerstört. Um 21.42 Uhr endet der Bombenhagel, die britischen Maschinen treten den Rückflug an.
Sechs Flugzeuge der Royal Air Force kehren nicht zurück
Tote gibt es aber auch bei der Royal Air Force: Sechs Flugzeuge kehren nach dem Feuersturm nicht wieder auf die Insel zurück. Eines zerschellt auf einem Feld bei Estenfeld, in der Flurlage „Kurzes Roth“, nachdem es im Anflug auf Würzburg von der deutschen Luftwaffe getroffen worden war – es ist die Lancaster RF176 von Lieutenant Grynkiewicz und seiner Mannschaft. Keines der sieben Besatzungsmitglieder überlebt den Absturz.
Wer die Maschine vom Himmel geholt hat, wird wohl niemals geklärt werden können. Zwar melden zwei deutsche Piloten, Hauptmann Wilhelm Johnen und Oberleutnant Erich Jung, um 21.43 Uhr den Abschuss eines britischen Flugzeugs in der Nähe von Würzburg – nähere Angaben machen sie aber nicht. So könnte es sich in ihrem Funkspruch auch um eine andere Lancaster gehandelt haben.
Die Unglücksstelle übt auf Estenfelder Jugendliche einen makabren Reiz aus
Niemand, der Zeuge der Bombardierung Würzburgs ist, wird die Erinnerung daran jemals wieder loswerden – auch jene Menschen nicht, die die Katastrophe aus einiger Entfernung miterleben. Das Flammenmeer, das die Nacht erhellt. Die riesige schwarze Wolke, die tagelang über der Stadt hängt. Der beißende Geruch, der kilometerweit zu vernehmen ist.

Dass bei Estenfeld ein Flugzeug abgestürzt ist, darüber spricht man im Dorf eher beiläufig am Vormittag des 17. März 1945 – zumindest unter den Erwachsenen. Viele von ihnen kümmern sich bereits um die ersten „Ausgebombten“, die mit ihren Handwägelchen und ein paar wenigen Habseligkeiten aus Würzburg geflohen sind. Auf die Jugendlichen übt die Unglücksstelle dagegen einen makabren Reiz aus. Emil Förster ist zu diesem Zeitpunkt 17 Jahre alt und gehört schon zu den Älteren, die sich auf dem Feld herumtreiben. „Praktisch alle Eltern hatten ihren Kindern gesagt, sie dürften auf keinen Fall dorthin gehen – daran gehalten haben sich die allerwenigsten“, sagte Emil Förster, als er vor einigen Jahren in einem sehr persönlichen Gespräch von seinen Kriegserinnerungen erzählte.
Auch Ludwig Wolz war vor ein paar Jahren bereit, über seine Kindheit und Jugendzeit in Estenfeld zu reden. Beim Absturz der Lancaster RF176 ist er fast 15 Jahre alt. Mit seinen Freunden macht sich Ludwig Wolz am Tag danach auf den Weg in Richtung Maidbronn. Die Wrackteile der Maschine rauchen noch, als die Jungen an der Absturzstelle eintreffen. „Die Neugier hatte uns dorthin getrieben. Doch wir hätten besser im Dorf bleiben sollen“, gestand Ludwig Wolz ein. Denn auf dem Acker liegen zwischen den Trümmern auch Körperteile herum – nicht alle sind abgedeckt. Aus einer Plane ragt eine Hand heraus, an jedem Finger steckt ein Ring. „Diese schrecklichen Bilder haben sich so tief in mein Gedächtnis eingebrannt, dass ich sie mein ganzes Leben nicht vergessen habe“, sagte Ludwig Wolz.
Emil Förster und Ludwig Wolz sind inzwischen gestorben – ein Zeitzeuge, der noch lebt, ist Heinz Bär, der genau heute, am 16. März, seinen 86. Geburtstag feiert. Am Tag des Luftangriffs auf Würzburg wurde er also neun Jahre alt. Auch Heinz Bär, ehemaliger Bürgermeister von Estenfeld und Kreisrat, hat das Bild noch vor Augen: die verbrannten britischen Flieger, vielleicht 60 bis 70 Zentimeter groß. „Schrumpfleichen“ nannte sie ein älterer Mann, der Heinz Bär damals mit zur Unglücksstelle nahm – und der dem Jungen erklärte, was Feuer mit menschlichen Körpern anrichten könne.
77 Jahre später, an einem kalten, sonnigen Morgen, steht Heinz Bär wieder auf dem Feld, auf dem sich das britische Flugzeug in die Erde bohrte. Die Häuser in der Siedlerstraße und in der Jahnstraße, nicht weit entfernt von hier, gab es seinerzeit noch nicht. Nur in der Maidbronner Straße befanden sich ein paar Häuser – in einem lebten der Schuster Philipp Scholz und seine Gattin sowie eine Frau Grösch mit ihren Kindern. In Estenfeld habe man sich erzählt, dass die Lancaster beinahe dieses Haus gestreift hätte, bevor sie abgestürzt ist, erinnert sich Heinz Bär. Wirklich glauben kann er das nicht, denn die Motoren der Maschine hatten sich regelrecht in den Boden gegraben. „Ich denke eher, dass sie fast senkrecht herunterkam“, sagt er.
Eine Absperrung gibt es am Morgen nach dem Unglück nicht – so können sich die Schaulustigen relativ frei bewegen. Einige betätigen sich als „Trophäenjäger“ und sammeln Metallteile auf, um sie zu Geld zu machen. Die meisten Trümmer seien aber mit Handkarren in die Lehmgrube der Ziegelei gebracht worden, erinnert sich Heinz Bär.
Im Pfarrarchiv findet sich nicht ein einziger Hinweis auf ein reguläres Begräbnis
Die sterblichen Überreste der sieben Besatzungsmitglieder werden in eine Holzkiste gelegt, die dann auf dem Estenfelder Friedhof vergraben wird – neben den damaligen Kindergräbern an der nördlichen Außenmauer. Vermutlich ist dies eine eigenmächtige Aktion der Nationalsozialisten, die im Ort noch immer das Sagen haben. Angeführt werden sie von den vier „Dorfgewaltigen“: Bürgermeister Christian Page, Hans Werner, Heinrich Müller und Johann Endres. Aus deren Sicht handelt es sich bei den Toten um Reichsfeinde, die eigentlich niemals auf deutschem Boden beerdigt werden dürften. Doch angesichts des Vormarschs der alliierten Truppen haben sie offenbar ein Interesse daran, die Leichen möglichst schnell beiseitezuschaffen.
Für ein unabgestimmtes Handeln der Estenfelder Nazis – ohne jegliche Einbeziehung der Kirche – spricht auch, dass sich im Pfarrarchiv nicht ein Hinweis auf ein reguläres Begräbnis findet: nicht im Friedhofsregister und auch nicht im Verkündbuch, das Pfarrer Philipp Schugmann mit großer Akribie führte. Ruhe finden die fremden Soldaten auf dem Estenfelder Friedhof nicht. Selbst nach dem Krieg gibt es im Ort nicht wenige Menschen, die denken oder offen aussprechen, was ein Freund von Emil Förster behauptete, auf den „Sarg“ geschrieben zu haben: „Hier liegen die Verbrecher.“

Am 10. Oktober 1947 werden Lieutenant Grynkiewicz und seine Männer exhumiert und nach Dürnbach am Tegernsee umgebettet. Die Commonwealth War Graves Commission – in ihrem Aufgabenbereich vergleichbar mit dem Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge – hatte dort kurz nach dem Krieg eine zentrale Begräbnisstätte errichtet. Die Lancaster-Crew teilt sich dort ein Gemeinschaftsgrab. Auf dem Stein haben die Angehörigen von Flugsergeant Eric John Day einen Spruch hinterlassen, der für alle Opfer von Kriegen gelten mag: „Though you are gone from us, in our hearts you will always remain.“ Auch wenn du von uns gegangen bist, in unseren Herzen wirst du ewig weiterleben.