
Die Bäume hängen voll mit Äpfeln. Die ganze Familie hilft bei der Ernte, lagert das Obst im Keller oder presst Saft daraus. Was vor Jahrzehnten in Franken völlig normal war, ist selten geworden. Die Zahl der Streuobstwiesen geht stark zurück – und mit ihnen der Lebensraum vieler Tier- und Pflanzenarten. Die Wiesen mit hohen Obstbäumen leisten einen Beitrag zur Artenvielfalt. Gerade erst erkannte sie die UNESCO als Immaterielles Weltkulturerbe an.
Doch warum ist die Streuobstwiese überhaupt in Gefahr? Martin Degenbeck von der Bayerischen Landesanstalt für Weinbau und Gartenbau in Veitshöchheim (LWG) koordiniert die Forschung zu Streuobst im Freistaat. Er erklärt, warum es immer weniger Streuobstwiesen gibt.
1. Neue Baugebiete verdrängen Streuobstwiesen
"Früher waren die eng bebauten fränkischen Ortschaften mit kompletten Obstbaumgürteln umschlossen", sagt Martin Degenbeck. Wenn die Gemeinden heute neue Siedlungs- und Gewerbeflächen am Rand der Altorte ausweisen, sind die Streuobstwiesen im Weg. "Obwohl die Streuobstbäume für den Naturschutz und die Kulturlandschaft von hoher Bedeutung sind, werden sie bei der Bauleitplanung oft als nachrangig eingestuft und müssen weichen", sagt der Diplom-Ingenieur Landschaftspflege. Dafür würden zwar Ausgleichsflächen geschaffen, aber der Verlust der vergangenen Jahrzehnte lasse sich damit nicht aufholen - denn er ist nicht nur auf neue Baugebiete zurückzuführen.
In Bayern nahm die Anzahl der Streuobstbäume von 20 Millionen im Jahr 1965 bis Mitte der 80er Jahre jährlich um rund 2,7 Prozent ab. Heute wird der Bestand in Bayern auf etwa 5,5 Millionen Bäume geschätzt. Genaue Zahlen gibt es nicht, auch weil sich mittlerweile nur noch ungefähr ein Drittel der Streuobstbäume in Bauernhand befindet, die Anspruch auf Landwirtschaftsförderung hätten. Viele Wiesen gehören Privatpersonen oder den Gemeinden, die ihren Bestand nicht melden. Ungefähr jeder zehnte Streuobstbaum gehört einer bayerischen Kommune.
2. Streuobst ist wirtschaftlich kaum rentabel
Traditionell spielte der Streuobstanbau eine entscheidende Rolle bei der Selbstversorgung. "Zu jedem Bauernhof gehörte ein Obstgarten, oft mit einem Baum für jede Obstsorte", sagt Degenbeck. In Regionen mit günstigen Anbaubedingungen wie in Mainfranken wurde Streuobst auch auf Feldern angebaut und diente zur Versorgung der größeren Städte im Umland. Mit der Globalisierung und dem Konzentrationsprozess in der Landwirtschaft änderte sich das. Obst und Saft werden zu günstigen Preisen zum Beispiel aus Polen oder China nach Deutschland importiert. Heimische Bauern konzentrieren sich auf Anbauflächen, die mehr Gewinn abwerfen. "Außerdem sind die immer größer gewordenen Traktoren und Geräte kaum mehr in Streuobstbeständen einzusetzen", sagt Degenbeck.
Die fränkische Realteilung verschärfte das Problem. Landbesitz wurde unter den Erbberechtigten gleichmäßig aufgeteilt. Dadurch wurden die Parzellen stetig kleiner – und durch die viele Handarbeit weniger rentabel. Durch die verhältnismäßig kleinen Mengen haben die Streuobst-Anbieter zum Beispiel in Keltereien eine schlechte Verhandlungsposition, wenn es um Preise für ihre Rohwaren geht. Ganz lukrativ können hingegen regionaltypische Spezialitäten wie sortenreine Säfte oder Edelbrände aus seltenen Obstsorten sein, erklärt der Streuobst-Experte.
3. Die Pflege der Bäume ist zeitaufwendig

Rund die Hälfte der Steuobstwiesen in Unterfranken ist in Privatbesitz und wird hobbymäßig betrieben. Die Bewirtschaftung einer solchen Fläche ist zeitintensiver als es viele anfangs denken. Gepflanzt ist ein Obstbaum schnell, aber vor allem Apfel- und Birnbäume müssen danach regelmäßig geschnitten werden, warnt Degenbeck.
Eine Beispielrechnung: Auf 50 Jahre Standzeit gerechnet, fallen pro Baum rund 35 Stunden Arbeitszeit an, pro Jahr also 0,7 Stunden. Für das Mähen der Wiese und die sonstige Bewirtschaftung sind je nach Flächenzuschnitt und Hangneigung 25 bis 60 Stunden pro Hektar einzukalkulieren, bei 80 Hochstamm-Obstbäumen pro Hektar. Vor allem die Ernte ist zeitaufwendig: Das Schütteln eines Baumes dauert rund 20 Minuten, das Auflesen des Obstes von Hand je nach Behang 0,5 bis 2 Stunden pro Baum. Bei einer typischen Streuobstwiese ergeben sich im langjährigen Durchschnitt wegen der vielen Handarbeit etwa 200 Arbeitsstunden pro Hektar und Jahr, bei steilen Hängen sogar deutlich mehr.
Vor 30 bis 40 Jahren hat man vielerorts mit der ganzen Familie Apfel und Birnen geerntet, Walnüsse aufgelesen und Kirschen gepflückt. "Wer kommt heute noch auf die Idee, Apfelmus selbst herzustellen, wenn das 500-Gramm-Glas im Supermarkt weniger als einen Euro kostet?", gibt Degenbeck zu bedenken. Aus wirtschaftliche Gründen wohl kaum jemand. Daher müsse die gesellschaftliche Anerkennung dafür wachsen, wenn jemand Streuobstwiesen pflegt.
4. Schädlinge und Krankheiten vergällen die Lust
Da im Streuobstbau in der Regel keine Pflanzenschutzmittel verwendet werden, sind schlecht gepflegte und unterversorgte Bäume anfällig für Krankheiten. "Faule Früchte und wurmiges Obst verdirbt vielen Baumbesitzern die Lust am Obstbau", sagt der Experte. Ein Teufelskreis. Denn schlecht gepflegte, ungedünnte Bäume sind weniger robust und tragen kleinere Früchte. "Der Pflegezustand der meisten Streuobstbestände ist außerordentlich schlecht", sagt der Diplom-Ingenieur vom Sachgebiet Landschaftspflege und Landschaftsentwicklung an der LWG. Das Wissen über die richtige Pflege lasse nach, weil es nicht mehr von Generation zu Generation weitergegeben werde. Die Bayerische Gartenakademie an der LWG versucht dem zum Beispiel durch Schulungen entgegenzuwirken. Die Landesanstalt erforscht außerdem die Resistenz von verschiedenen Apfelsorten gegen Krankheiten.

5. Kunden wollen makelloses Obst
Viele Kunden greifen nur zu makellosem Tafelobst. Streuobstfrüchte sehen nicht einheitlich aus, manche Sorten haben Schorfflecken. Bei der Direktvermarktung von Höfen oder an Marktständen akzeptieren die Kunden diese Schönheitsfehler am ehesten. "Im Hofladen birgt die Sortenvielfalt des Streuobstbaus neue Chancen gegenüber dem Supermarkt", sagt Degenbeck. Im Einzelhandel gebe es meist nur ein kleines Angebot an Apfelsorten. Ein Lichtblick für Streuobst-Anbieter sei der Trend zu regionalen Produkten und ökologischem Anbau. Hier steht das Streuobst allerdings in Konkurrenz zu Bio-Obst aus Monokulturen. Die sind leichter zu bewirtschaften als Streuobstwiesen, die Früchte können günstiger angeboten werden. Deshalb wird Streuobst hauptsächlich verarbeitet - zu Saft, Brand oder zum Backen. "Gerade dort ist das Streuobst wegen seiner Geschmacksvielfalt unersetzlich und verdient wieder mehr Aufmerksamkeit".