
Eine Würzburger Straße und der Holocaust? So mögen sich die fragen, denen die Orte der Ermordung der Würzburger Jüdinnen und Juden im Osten Europas bekannt sind: Riga, der Raum Lublin, Theresienstadt, Auschwitz etc.. An diesem Montag, 27. Januar, wird weltweit an den Tag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz und an die Millionen Opfer des Holocaust erinnert – auch in Würzburg. Die Unicef-Hochschulgruppe gedenkt um 17 Uhr am DenkOrt Deportationen besonders der deportierten Kinder und Jugendlichen.
Mit dem Begriff "Holocaust" wird oft viel mehr gemeint als der Mord an den europäischen Juden: die Entrechtung, Verfolgung, Beraubung und Vertreibung jüdischer Menschen durch den nationalsozialistischen Unrechtsstaat zwischen 1933 und 1945. Und die setzte dort ein, wo die Menschen lebten und arbeiteten wie in der Kaiserstraße in Würzburg.
Die Kaiserstraße geht auf die Ausbaupolitik der Stadt Würzburg in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zurück. 1865 wurde der neue Bahnhof am jetzigen Standort eröffnet. Doch erst nach dem Abriss der Befestigungsanlagen konnte die Kaiserstraße zwischen 1873 und 1877 als neue Verbindungsachse zwischen Bahnhof und Innenstadt angelegt werden. An beiden Seiten der Straße entstanden repräsentative Gebäude im Gründerzeit-Stil. Bald siedelten sich Geschäfte, Firmen und Kanzleien dort an – darunter einige in jüdischem Besitz.

Im Jahr 1930 zeigt das Adressbuch den breiten Branchenmix der Straße. 20 Betriebe befanden sich zu diesem Zeitpunkt in jüdischem Besitz. Mit dieser Dichte übertraf die Kaiserstraße alle anderen Straßen in Würzburg.
Die "Arisierung" jüdischer Betriebe
Gut die Hälfte der Betriebe in jüdischem Besitz war bereits in den ersten Jahren der Kaiserstraße bis 1886 gegründet worden – einer Zeit starker Zuwanderung und Expansion. Elf Geschäfte sind 1930 der Textil-Branche (inkl. Schuh- und Lederhandel) zuzurechnen, darunter sechs Großhandlungen. Zwei Großhandlungen vertrieben Wein. In diesen beiden Branchen waren viele Würzburger Juden tätig. Hinzu kommen zwei Rechtsanwaltskanzleien und drei Arztpraxen sowie zwei kleine Fabriken und das Kunstgewerbehaus Laredo. Neun der 54 Firmeninhaber waren Frauen, die auch sonst oft mitarbeiteten, ohne dass wir viel darüber erfahren. Wenn sie jedoch etwa nach dem Tod ihrer Ehemänner leitend ins Geschäft einstiegen, sieht man ihre Kompetenzen.

Alle jüdischen Geschäftsbesitzer wurden durch den NS-Staat bis 1938 enteignet und vertrieben. In den meisten Fällen bedeutete dies, dass die Besitzer gezwungen wurden, ihre Firmen aufzulösen – unter hohen Verlusten. Dies galt auch für alle Arztpraxen und Rechtsanwaltskanzleien sowie für das Kaufhaus Zapff. Vier Betriebe, eher die größeren und bedeutenderen Großhandlungen und Geschäfte, wurden hingegen "arisiert", also ebenfalls unter hohen Verlusten von einem nichtjüdischen Käufer übernommen und weitergeführt. Ihren Immobilienbesitz – sechs Hausnummern – mussten jüdische Firmeninhaber ebenfalls unter Wert verkaufen. Einige Besitzer starben bis 1941 noch eines natürlichen Todes in Würzburg, vier wurden mit ihren Angehörigen deportiert und ermordet. Die meisten schafften jedoch die Flucht ins Ausland – traumatisiert und mit leeren Händen.
Das Schicksal der Familie Laredo
Dies gilt etwa für die Familie Laredo. Das Kunstgewerbehaus Laredo gehört zu den ältesten und bekanntesten Geschäften der Kaiserstraße. Josef Laredo, der Gründer, stammte aus Marokko und eröffnete 1877 an der Kaiserstraße 5 seinen "Kaizer-Bazar", in dem er Haushaltsartikel und Kunstgewerbe verkaufte. Nach seinem Tod 1907 folgten seine Witwe Jeanette und sein Sohn Oskar in der Leitung. Oskar erweiterte das Geschäft um ein graphisches Kabinett und versuchte dort, der Würzburger Bevölkerung moderne Kunst näherzubringen. Die Nationalsozialisten setzten ihn deswegen von Anfang an besonders unter Druck, zwangen ihn zum Verkauf und schickten ihn ins KZ Dachau. Wie durch ein Wunder gelang ihm und seiner Familie noch die Emigration.

Größer und bekannter dürfte das Mode- und Textilkaufhaus Zapff an der Ecke zum Barbarossaplatz gewesen sein. Karl Simon führte es seit 1901 und baute es mit Unterstützung seiner Frau in der Geschäftsleitung zum größten Kaufhaus der Branche in der Stadt aus. 1937 waren ungefähr 130 Angestellte im Betrieb beschäftigt. Auf Druck der Gestapo und anderer, konkurrierender Würzburger Textilunternehmer wurde das Kaufhaus 1937 nicht verkauft, sondern aufgelöst. Karl und Mina Simon gelang die Emigration in die USA, wo Karl wenig später starb.
Elsa Fränkel wuchs in Würzburg auf und heiratete um 1900 nach Berlin. Nach dem frühen Tod ihres Mannes kehrte sie zurück und übernahm von ihrem Vater dessen Hut- und Herrenmodegeschäft M.C. Loeb in der Kaiserstraße 3. 1932 zog sie mit ihrem Geschäft in die Eichhornstraße um, drei Jahre später musste sie es schließen. Bis zum bitteren Ende durchlitt sie zusammen mit ihrer Mutter die NS-Verfolgungsmaßnahmen. Die beiden wurden 1942 nach Theresienstadt deportiert, wo die Mutter starb. Elsa Fränkels Leben endete 1944 in Auschwitz.

Keine Karriere für jüdische Juristen in Nazi-Deutschland
Dr. Ludwig Hellmann hatte in Würzburg und Berlin Medizin studiert und eröffnete in den 1890er Jahren seine Praxis in der Kaiserstraße 27. Neben der Allgemeinmedizin spezialisierte er sich auf HNO-Krankheiten. Er war gesellschaftlich engagiert, wurde zum Sanitätsrat ernannt und gehörte zu den ehrenamtlichen Verwaltungsmitgliedern der Israelitischen Kultusgemeinde. Nach seinem Tod 1931 wurde die Praxis aufgelöst. Kurze Zeit später eröffnete sein Sohn Karl im Haus gegenüber ebenfalls eine HNO-Praxis. Er emigrierte 1936 nach Istanbul, um dort an der Universität eine Professur zu übernehmen. Sein Bruder Bruno betrieb in der Kaiserstraße 27 eine kleine Kistenfabrik und folgte ihm später in die Türkei.
Die Rechtsanwaltskanzlei Stern-Haas in der Kaiserstraße 29 genoss in der Stadt und darüber hinaus großes Renommee. Otto Stern gründete sie 1886 im eigenen Haus, sein Neffe Gerson Haas und später sein Sohn Bruno stiegen mit ein. Auch deren Söhne wurden wieder Juristen – konnten aber in Deutschland keine Karriere mehr machen. Die stark gewachsene Kanzlei wechselte im Laufe der Zeit vom Vorderhaus in das Rückgebäude und musste 1938 schließen. Gerson Haas starb vor den Deportationen, die Mitglieder der Familie Stern konnten alle auswandern. Bezeichnend für beide Familien ist, dass sie als langjährige Vorsitzende in der Jüdischen Gemeinde wie auch in der städtischen Politik engagiert waren.

Auch die Tuch- und Manufakturwarengroßhandlung M. Kahn & Co. befand sich seit 1898 in der Kaiserstraße 29. Da war die Firma bereits über 70 Jahre alt. Wie eigentlich alle anderen Betriebe war auch dieser ein Familienbetrieb und wurde von einer zur anderen Generation weitergegeben. Brüder, Väter und Söhne, Väter und Schwiegersöhne, Schwager und Schwägerin führten das Geschäft gemeinsam. Die Großhandlung gehört zu den Firmen, die in der NS-Zeit unter Wert von einem nichtjüdischen Käufer übernommen und weitergeführt wurden (1937).
Stele im Kaisergärtchen
Dr. Rotraud Ries ist Historikerin und Expertin für deutsch-jüdische Geschichte. Sie leitete bis 2022 das Johanna-Stahl-Zentrum für jüdische Geschichte und Kultur in Unterfranken und hatte maßgeblichen Anteil am Projekt "DenkOrt Deportationen".