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Würzburg
Der Weg in die Vernichtung vor 80 Jahren: Die letzten Würzburger Jüdinnen und Juden werden deportiert
17. Juni 1943: Vor allen Augen werden Würzburger Jüdinnen und Juden nach Auschwitz und Theresienstadt verschleppt. Es ist die letzte größere Deportation in Unterfranken.
Die jüdische Familie Weinberger beim Wandern 1938. Von der Familie überlebte nur die Tochter Hannah (links) die Verfolgung durch das NS-Regime.
Foto: JSZ, Ruth March | Die jüdische Familie Weinberger beim Wandern 1938. Von der Familie überlebte nur die Tochter Hannah (links) die Verfolgung durch das NS-Regime.
Bearbeitet von Torsten Schleicher Rotraud Ries
 |  aktualisiert: 08.02.2024 10:40 Uhr

Sie liefen mitten am Tag durch die Innenstadt, von der Bibrastraße zum Hauptbahnhof: Die letzte Gruppe jüdischer Bewohnerinnen und Bewohner in Würzburg, 64 Menschen, bewacht von vier Schutzpolizisten. Vor 80 Jahren, am 17. Juni 1943, wurden sie deportiert. Im Anschluss erklärte die Gestapo Mainfranken für "judenfrei". Menschen mit nichtjüdischen Ehepartnerinnen und -partnern und Kinder aus solchen Beziehungen waren von dem Abtransport ausgenommen.

Am Hauptbahnhof musste die Gruppe zwei bereitgestellte Waggons besteigen, die an einen regulären Zug nach Nürnberg angekoppelt waren. Der eine sollte nach Auschwitz-Birkenau, der andere nach Theresienstadt führen. Die 57 Menschen in dem Zug nach Auschwitz wurden wohl gleich nach der Ankunft ermordet. Von den sieben Personen, die in das Ghetto Theresienstadt gelangten, konnte eine Frau überleben. Die anderen starben in Theresienstadt oder wurden von dort nach Auschwitz weiter transportiert.

Seit den großen Deportationen nach Theresienstadt im September 1942 hatte die jüdische Gemeinde in Würzburg nur noch aus dieser kleinen Gruppe von Menschen bestanden. Etwa die Hälfte von ihnen hatte 1933 schon dort gewohnt. Die andere Hälfte war seitdem meist aus unterfränkischen Orten und selten freiwillig zugezogen.

Isoliertes Leben in der Sammelunterkunft in Würzburg

Einige Personen der Gruppe gehörten zu den Funktionsträgern der Gemeinde. Sie waren von der Gestapo auch zur Vorbereitung der vorherigen Transporte herangezogen worden: Iwan Schwab, Leiter der jüdischen Geschäftsstelle, des Büros der jüdischen Gemeinde; die Journalistin und Akteurin der Frauenbewegung Dr. Henny Stahl, die sich seit 1934 unermüdlich als Sozial- und Emigrationsberaterin einsetzte; ihr Bruder Eugen Stahl, der letzte Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde; Selig Steinhäuser, bis 1942 Direktor der jüdischen Volks- und Berufsschule und Mitglied des Gemeindevorstands. Iwan Schwab und Henny Stahl waren bereits im März verhaftet worden und wurden erst unmittelbar zur Deportation aus dem Gefängnis entlassen.

Installation aus einer Gedenkausstellung im Johanna-Stahl-Zentrum, 2018. Von links: Hilda und Iwan Schwab, Henny Stahl, Eugen Stahl.
Foto: Rotraud Ries | Installation aus einer Gedenkausstellung im Johanna-Stahl-Zentrum, 2018. Von links: Hilda und Iwan Schwab, Henny Stahl, Eugen Stahl.

Karl Lonnerstädter, Thekla Schloss und Paula Kohlmann arbeiteten als Sachbearbeiter bzw. Bürokraft und Kontoristin in der Geschäftsstelle, Karl Künstler als Hausmeister in der Sammelunterkunft in der Bibrastraße 6, Dora Schwabacher verwaltete die Kleiderkammer. Für die Alltagsbedürfnisse sorgten Krankenschwestern, Bäcker, Köche und Köchinnen, Gärtner, Schlosser, Näherinnen, eine Schuhmacherin, Lehrerinnen und Hausangestellte. Auch die letzten sieben Mitglieder der jüdischen Gemeinde in Aschaffenburg gehörten seit Oktober 1942 zur Restgemeinde in Würzburg – darunter ihr letzter Vorsitzender, der Landgerichtsrat Meier Kahn und seine Frau Lilly.

Ein großer Teil der Restgemeinde lebte in den letzten Monaten in Würzburg isoliert von der Umgebung in der Bibrastraße 6. In dem großen Gebäude, dem ehemaligen Internat der Israelitischen Lehrerbildungsanstalt, hatten bis zu den vorherigen Deportationen hunderte Menschen unterkommen müssen. Doch nach der Enteignung der großen Synagoge und der Volksschule an der Domerschulstraße war dort auch ein neues Gemeindezentrum entstanden. Die Bewohnerinnen  und Bewohner organisierten ihren Alltag und ihre religiösen Bedürfnisse gemeinsam, jede und jeder war für bestimmte Aufgaben zuständig. Mordechai Ansbacher hat dies anschaulich beschrieben. Fünf Personen wohnten abseits von den anderen außerhalb der Stadt, im Gebäude auf dem jüdischen Friedhof. Zu ihnen gehörten drei junge Erwachsene und ein Kleinkind.

Die letzten jüdischen Kinder im Schulalter in Würzburg

Im Haus in der Bibrastraße lebten zwei weitere Kinder und fünf junge Menschen. Das jüngste Kind von allen war Sally Heippert, geboren am 9. Januar 1942 im Israelitischen Krankenhaus in Frankfurt (Main). Zu dieser Zeit befand sich seine ledige Mutter Käthe Heippert im Heim des Jüdischen Frauenbunds in Neu-Isenburg. Dort konnte sie sich in einer halbwegs geschützten Umgebung auf ihr Kind vorbereiten. Sallys Vater ist nicht bekannt. Als das Heim in Neu-Isenburg im März 1942 schließen musste, zog Käthe Heippert mit ihrem Baby nach Würzburg. Dort hatte sie bereits zuvor als Hausangestellte gearbeitet. Im Haus auf dem Friedhof lebten auch Sofie Krebs und ihre beiden Söhne Julius und Walter. Als Gärtner war Walter Krebs wohl für den Friedhof zuständig und konnte durch den Anbau von Obst und Gemüse zur Versorgung der Mitbewohnerinnen und -bewohner und der Menschen in der Bibrastraße beitragen.

Michael und Elisabeth Weinberger wohnten mit ihrer Mutter Ruth in der Sammelunterkunft in der Bibrastraße. Sie waren die letzten jüdischen Kinder im Schulalter in Würzburg, elf und sieben Jahre alt. Ihre Mutter erteilte ihnen Privatunterricht und baute im Hof des Gebäudes Gemüse an. Sie war Krankenschwester. Der Vater Karl Weinberger war Erster Staatsanwalt und Landgerichtsrat in Würzburg gewesen und ist 1941 an einer Blutvergiftung gestorben.

Michael, Hannah und Elisabeth Weinberger, ca. 1939.
Foto: JSZ, Ruth March | Michael, Hannah und Elisabeth Weinberger, ca. 1939.

Die Eltern Weinberger hatten sich erst nach dem Novemberpogrom 1938 und nach der Zerstörung ihrer Wohnung entschlossen auszuwandern, was jedoch nicht mehr gelang. Die drei Kinder sollten mit einem Kindertransport nach England ausreisen. Als es so weit war, brachten Ruth und Karl Weinberger es nicht fertig, den beiden jüngeren Kindern die Trennung zuzumuten. Nur die elfjährige Hannah stieg im Juni 1939 in den Zug. Sie überlebte als einziges Familienmitglied und verbrachte ihr Leben als Hannah Hickman in England.

Letztes Fünkchen Hoffnung, das jüdische Leben fortsetzen zu können

Auch individuelle Zufälle führten dazu, dass einzelne Personen zur Gruppe der zuletzt Deportierten gehörten. Doch insgesamt deutet die berufliche und die Altersstruktur darauf hin, dass die Leitung der Gemeinde, die an der Zusammenstellung der vorherigen Deportationslisten beteiligt war, darauf achtete, dass die Restgemeinde im Alltag noch funktionsfähig war. Und dass noch ein letztes Fünkchen Hoffnung blieb, mit Kindern und jungen Menschen jüdisches Leben fortzusetzen.

Letzter Brief von Ruth Weinberger an ihre Tochter Hannah, 16. Juni 1943 (aus: Hannah Hickman, Let One Go Free, Newark 2003, S. 53).
Foto: Rotraud Ries | Letzter Brief von Ruth Weinberger an ihre Tochter Hannah, 16. Juni 1943 (aus: Hannah Hickman, Let One Go Free, Newark 2003, S. 53).

Die grausame Konsequenz der NS-Politik hat diese Option zunichte gemacht. Was keiner ahnen konnte: Nur zwei Jahre später, nach der Befreiung von der NS-Diktatur, sollte ein Neuanfang auf sehr kleiner Basis, mit wenigen überlebenden Kindern und Jugendlichen wieder möglich werden. Die Nationalsozialisten hatten ihr Ziel, Juden und jüdische Kultur komplett zu vernichten, nicht erreicht.

Zum Gedenken an die vor 80 Jahren aus Würzburg deportierten Menschen fand am 16. Juni eine Veranstaltung am DenkOrt Deportationen in Würzburg statt. Neun weitere Gedenk-Gepäckstücke aus Kommunen in Unterfranken wurden der Öffentlichkeit übergeben.

Text: Rotraud Ries.

Rotraud Ries ist Historikerin. Von 2009 bis 2022 leitete sie das Johanna-Stahl-Zentrum für jüdische Geschichte und Kultur in Unterfranken.

Nähere Informationen zu den jüdischen Gemeinden und ihren Shoa-Opfern, an die erinnert wird, gibt es auf der Seite www.juf-gedenken.de.

 
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