Vor kurzem jährte sich die dritte Deportation von Jüdinnen und Juden am 25. April 1942 aus Würzburg. Mit 852 Personen war sie der größte Transport aus Unterfranken und wurde von der Gestapo in Würzburg organisiert. Die Menschen in dem Transport kamen aus dem gesamten heutigen Regierungsbezirk. Auch 78 Jüdinnen und Juden aus Würzburg waren dabei. Lediglich ein Teil der jüdischen Bewohnerinnen und Bewohner aus den Landkreisen Kitzingen und Ochsenfurt hatte bereits im März in Kitzingen einen Zug in den von Deutschland besetzten Osten Polens besteigen müssen. Ihr Schicksal glich dem der im April Deportierten: Sie wurden alle ohne Ausnahme noch 1942 im Raum Lublin ermordet – zusammen mit dem dritten Transport 1 060 Menschen.
Wie schon bei den beiden vorherigen Deportations-Terminen betraf der Transport Männer und Frauen bis zu 65 Jahren und ihre Kinder. Dies erlaubte den Nazis den Menschen vorzutäuschen, es ginge bei der "Evakuierung" um Arbeitseinsätze im Osten. Zugleich konnten die Deportierten in den Lagern von Fall zu Fall tatsächlich zur Zwangsarbeit herangezogen werden. Mit den Kindern vernichtete der NS-Staat überdies, so die teuflische Logik, die Zukunft des unterfränkischen Judentums. Die älteren und alten Menschen wurden im Laufe des Sommers in wenigen Orten konzentriert und dann im September an zwei Terminen ebenfalls von Würzburg aus deportiert.
Beraubung, Deportation und Vernichtung
Mit dem harmlosen Begriff "Evakuierung" verschleierte die Gestapo, was wirklich passierte: Beraubung, Deportation und Vernichtung. Der Ablauf folgte an allen Deportations-Terminen im Wesentlichen dem gleichen Muster. Nach der Aufforderung zur "Evakuierung" wurden die Menschen genauestens darüber informiert, wie sie sich vorbereiten sollten. Auch dass sie mit dem Grenzübertritt ausgebürgert und enteignet wurden. Der Zustand der Wohnung und die Schlüsselabgabe wurden geregelt, Groß- und Handgepäck mit Reiseproviant für mehrere Tage vorgeschrieben. Vor allem aber wurde den Menschen eine Nummer zugewiesen. Wertgegenstände und Wertpapiere mussten sie abgeben sowie allen Besitz in einem langen Formular auflisten. Die Kosten für den Transport mussten die Deportierten ebenfalls tragen.
Von den örtlichen Sammelunterkünften aus mussten Familien und Einzelpersonen unter Bewachung zum Zug nach Würzburg gehen. Andere fuhren mit dem Bus oder wurden von Mitgliedern der Jüdischen Gemeinde Würzburg in der Umgebung der Stadt abgeholt. Ein akribischer Zeitplan regelte die Ankunft.
Im Sammellokal in Würzburg, dem Vergnügungslokal Platz’scher Garten, warteten strenge und entwürdigende Kontrollen von Gepäck und Kleidung. Die Kontrolleure und ihre Kolleginnen konfiszierten in großer Menge Besitz und Kleidung. Darüber wurden Listen geführt. Das akribische bürokratische Vorgehen diente dazu, den Opfern Rechtmäßigkeit vorzuspiegeln. Bis zu drei Tage mussten die Menschen unter unwürdigen Bedingungen, auf dem Boden schlafend ausharren, bevor sie streng bewacht zum Abtransport zur Bahnstation liefen.
Für die ersten drei Deportationen sind wir durch die Täter-Fotos, die in Würzburg und Kitzingen aufgenommen wurden, auch visuell über das Geschehen informiert. Deutschlandweit handelt es sich um einen der wichtigsten Fotobestände zum Thema - mit "launigen" antisemitischen Kommentaren zum sogenannten "Deportations-Album" zusammengefügt.
Schwarze Schilder mit den Namen der Deportierten
Diesen größten Deportations-Transport vom 25. April 1942 nahmen Bürgerinnen und Bürger aus dem Arbeitskreis Stolpersteine 2011 zum Anlass, einen Erinnerungsgang in Würzburg zu initiieren. Auf der Wegstrecke vom Sammellokal zum Deportationsbahnhof sollte stellvertretend an alle Menschen erinnert werden, die aus Unterfranken in den Tod geschickt wurden. 13 Jahre vor der vergleichbaren Erinnerungs-Aktion "Die Rückkehr der Namen" des BR in München vor wenigen Wochen sollten ihnen ihre Namen zurückgegeben werden.
Die Teilnehmenden am Erinnerungsgang hielten schwarze Schilder in ihren Händen und Armen, auf denen jeweils der Name, das Alter und der Wohnort eines Deportierten angegeben waren. Dazu – bei allen gleich – das Deportationsdatum und die Information "ermordet im Raum Lublin".
Neben der Stadt Würzburg, der Jüdischen Gemeinde und weiteren Institutionen und Gruppierungen waren Aktive aus der ganzen Region an Vorbereitung und Durchführung des Erinnerungsgangs beteiligt. Schulklassen und weitere Gruppen aus Stadt und Region nahmen teil, das Banner an der Spitze des Zuges wurde von Studierendenvertretern getragen. Auch Nachkommen fränkisch-jüdischer Familien aus Israel waren dabei. Mehr als 3000 Menschen reihten sich ein in den langen Gedenkzug zwischen dem Ort des früheren Platz’schen Gartens und dem ehemaligen Güterbahnhof in der Aumühle.
Der Gang markierte 2011 eine Zäsur in der Erinnerungskultur
Die Befürchtung, dass die Veranstaltung auf der Deportationsstrecke als Nachstellung des historischen Zuges empfunden und interpretiert werden könnte, bewahrheitete sich nicht. Mit großem Ernst, mit Würde und Konzentration gingen die Teilnehmenden aller Altersstufen den Weg bis zur Aumühle und legten dort die Schilder entlang der ehemaligen Bahngleise ab. Der Würzburger Rabbiner sprach ein Totengebet, eine durchdringende Klanginstallation rezitierte die Namen der Opfer und eine Tanz-Performance verkörperte den Schmerz über das Geschehene. Und das damalige Gelände, die verkehrsumtoste Industrie-Brache, entfaltete ihre eigene Symbolik, als ein Zug mit quietschenden Rädern langsam das Geschehen passierte.
Der Erinnerungsgang vom 10. Mai 2011 markiert eine Zäsur und einen ersten Höhepunkt in der regionalen Erinnerungskultur. Er initiierte ein Netzwerk zwischen den Kommunen mit ehemaligen jüdischen Gemeinden und ihren Akteuren. Eine Grundlage für das Gedenken an die Vertreibung, Deportation und Ermordung der jüdischen Bevölkerung als Ganzes wurde gelegt, das dann in den Folgejahren umgesetzt werden konnte: in der weiteren Ausgestaltung des historischen Deportationsweges zum Erinnerungsweg, in der Verwirklichung eines regionalen Erinnerungsortes "DenkOrt Deportationen" in Würzburg sowie mit dem Angebot zum historisch informierten Gedenken auf den Webseiten.
Dr. Rotraud Ries ist Historikerin und Expertin für deutsch-jüdische Geschichte. Sie leitete von 2009 bis 2022 das Johanna-Stahl-Zentrum für jüdische Geschichte und Kultur in Unterfranken und hatte maßgeblichen Anteil am Projekt "DenkOrt Deportationen".
Für mehr Hintergrund-Informationen siehe die Seiten www.denkort-deportationen.de und www.juf-gedenken.de. Sowie das Buch "Erinnern als vielstimmiges Stadtgespräch. Projekte und Initiativen zur Gedenk- und Erinnerungskultur in Würzburg", Würzburg 2021.