Bruno Stern ist erfolgreich im Beruf und engagiert sich fürs Gemeinwohl. Er ist ein Würzburger und ein Deutscher durch und durch. Für sein Vaterland bringt er zwischen 1914 und 1918 die Söhne anderer Vaterländer um, verdient sich ein Eisernes Kreuz 1. Klasse und eines 2. Klasse. Aber als er in die Burschenschaft „Germania zu Würzburg“ eintreten will, weist die ihm die Tür.
Bruno Stern gehört nicht dazu. Bruno Stern ist ein Jude.
In den vergangen Tagen war sein Enkel John Stern in der Stadt, gekommen aus Louisville in Kentucky, um zu erleben, wie die Würzburger mit der Erinnerung an seinen Großvater umgehen. Es ging um Integration, Schuld und Versöhnung und um eine 900 Jahre lange Geschichte.
Der erste Hinweis jüdische Würzburger ist ein Bericht über ihre Ermordung
1095 ziehen christliche Kreuzritter gen Jerusalem. Unterwegs massakrieren sie, unterstützt von Einheimischen, Juden: 800 in Worms, 1000 in Mainz, ein Massaker hier, ein Gemetzel dort. 1096 kommen sie in Würzburg an. Weil kein Zeitgenosse ein Pogrom notiert hat, gehen die Historiker davon aus, dass zu jener Zeit keine Juden in Würzburg lebten.
Gut 50 Jahre später sieht das anders aus: 1147, nächster Kreuzzug, nächste Massaker, diesmal auch in Würzburg. Kreuzritter und christliche Würzburger schlachten 20 jüdische Würzburger ab und verwunden viele. Der erste Hinweis auf Juden in Würzburg ist ein Bericht über ihre Ermordung. Tausenden wird es noch ergehen wie ihnen.
Bruno Stern hat Würzburg und Nazi-Deutschland überlebt, seine Familie mit ihm.
In der Pogromnacht vom November 1938 fielen hunderte Würzburger über ihre jüdischen Nachbarn her, auch über Bruno Stern. Ihm half nicht, dass er für Deutschland sein Leben gewagt und andere genommen hat. Er hat als Anwalt die Universität, die Regierung von Unterfranken und das Finanzamt vertreten, war im Mitglied im Stadtrat gewesen für die liberal-konservative Deutsche Demokratische Partei, aber in dieser Nacht verprügeln ihn seine Landsleute und verschleppen ihn ins KZ Buchenwald.
Christliche Integrationsverweigerer
Als sie ihn freilassen, ist er schwerkrank. Stern gibt die Kanzlei, die er mit Gerson Haas in der Kaiserstraße 29 betreibt, auf und bereitet die Flucht vor. Seine Landsleute plündern die Familie aus, manche Würzburger machen Schnäppchen, Stern muss allein über 100 000 Reichsmark „Reichsfluchtsteuer“ entrichten. Als die Sterns Ende 1938 in die USA emigrieren, habe sie beinah ihre gesamte Habe verloren. In Pennsylvania bauen sie sich als Feinbäcker eine neue Existenz auf.
In der Kaiserstraße, am Kaisergärtchen, wird, wenn die Sanierungsarbeiten abgeschlossen sind, eine Stele an die jüdischen Anwälte, Ärzte und Kaufleute erinnern, die in der Kaiserstraße ihren Sitz hatten.Zur Vorstellung des Denkmals sagte Wolfgang Weier, der Geschäftsführer von „Würzburg macht Spaß“ und Quartiersmanager der Kaiserstraße, den Sterns sei all das widerfahren, „obwohl sie gut integriert waren“.
Seit über 900 Jahren gibt es jüdische Würzburger und immer noch geht es um ihre Integration in die Stadt. Dabei waren nicht sie die Integrationsverweigerer.
Zwischen 1147 und 1298 bringen christliche Würzburger keine jüdischen Würzburger um. Jüdische Geschichtsschreiber nennen diese Zeit die „Goldene Epoche“. 1298 holen die Christen alles nach: 900 Tote sind die Bilanz der – nach einem Anführer des Mobs benannten – Rintfleisch-Verfolgungen.
Die christliche Mehrheitsgesellschaft denkt nicht daran, die jüdische Minderheit zu integrieren. Christen verfolgen und vertreiben Juden, um ihren Religionsstifter zu rächen, weil Juden schuld seien an Pest und anderem Übel, weil sie Kinder schlachteten und Hostien schändeten.
Wie sich christliche Würzburger über die rechtliche Gleichstellung der Juden beschwerten
In der Mitte des 19. Jahrhunderts betreibt das Königreich Bayern die rechtliche Gleichstellung von Christen und Juden. 660 empörte Würzburger protestieren: Sie seien „weit entfernt von aller Lieblosigkeit und Unduldsamkeit gegen die Juden“. Aber mit „tiefem Schmerz und gerechter Entrüstung“ erfülle sie die „völlige Gleichstellung der Juden mit uns“. Sie sei „eine unverdiente Bevorzugung der Juden vor den Christen“ und „ein Grund ernster Gefahren“.
Der große israelische Dichter Jehuda Amichai, 1924 in Würzburg geboren als Ludwig Pfeuffer und 1936 mit seiner Familie nach Palästina geflüchtet, beschreibt seine jüdische Welt in Würzburg als „gänzlich geborgen und vollkommen“. Seiner nichtjüdischen Umwelt sei er sich gleichwohl bewusst gewesen, er habe ihre Feindseligkeit schon vor Hitler gespürt. Als Würzburger Kind sei für ihn aktives Judentum „fast immer mit feindlicher Umwelt verbunden“ gewesen. Eine „historische, christliche Feindseligkeit“ sei das gewesen, „auf die später der politische Antisemitismus der Nazis aufbaute.“
Die Nationalsozialisten und ihre Mitläufer ermordeten in ihren Vernichtungslagern etwa 1000 jüdische Würzburger.
Am Kaisergärtchen, zur Vorstellung der Gedenkstele, sagte Oberbürgermeister Schuchardt, es wäre „falsch, den Anteil der jüdischen Einwohner am Leben unserer Stadt auf die Opferrolle zu reduzieren“. Jüdische Bürger hätten „am wirtschaftlichen, kulturellen, politischen und gesellschaftlichen Leben unserer Stadt großen Anteil“.
Ein Händedruck, als wolle er Kohle zu Diamenten pressen
Die Rede dauerte, weil er Satz für Satz auf Englisch wiederholte für John Stern. Der 70-Jährige Enkel Bruno Sterns und Großneffe von Gerson Haas ist ein handfester Mann. Er betreibt ein Unternehmen für Holzböden und hat einen Handschlag, als wolle er Kohle zu Diamanten pressen.
Am Mittwochmorgen, vor Schuchardts Rede, war ihm schwergefallen, seine Gefühle zu beschreiben. Am Ende des Tages, nachdem die Juristische Fakultät und der Anwaltsverein Bruno Stern und Gerson Haas eine Feier gewidmet hatten, fiel es ihm leicht. Mit einem Strahlen im Gesicht erzählte er, ihn beeindrucke, wie die Stadt sich mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzt.
Er hatte vom OB gehört, dass die Stadt sich zu ihrer Schuld und ihrem Versagen gegenüber ihren jüdischen Bürgern bekenne und dass die Würzburger glücklich seien, weil jüdisches Leben längst wieder ein selbstverständlicher Bestandteil Würzburg wäre.
Würzburg, so sprach der OB, wolle „alles tun, damit nie wieder Menschen in unserer Stadt wegen ihrer Abstammung, Herkunft oder Religion in Angst leben oder um ihr Leben fürchten müssen“.
Ein Keim für neuen Antisemitismus in Deutschland
Stern hatte Initiativen wie den Arbeitskreis Stolpersteine, die Dokumentationsstelle für jüdisches Leben „Johanna-Stahl-Zentrum“ oder die Projektgruppe „Wir wollen erinnern“ kennen gelernt. Er hatte auch Professor Eric Hilgendorf gehört, den Inhaber des Lehrstuhls für Strafrecht und Rechtstheorie an der Uni Würzburg.
Hilgendorf meint, die erste Pflicht im Umgang mit den Nazi-Opfern sei, „uns um die letzten Überlebenden zu kümmern“. Während der Feier für Stern und Haas forderte er, unmissverständlich deutlich zu machen, „dass die Vertreibung und Ermordung so vieler Menschen ein beispielloses Verbrechen war“, das die heutigen Deutschen ebenso verurteilten „wie die Angehörigen aller anderen zivilisierten Länder“.
Die zweite Aufgabe sei die „rückhaltlose Aufklärung“ des Geschehenen und die Bestrafung der Täter; das hätten die Strafverfolgungsbehörden in den 50er und 60er Jahren „beschämenderweise nur halbherzig“ getan. Genauso wichtig sei der Versuch zu verstehen, „wie es zu den beispiellosen Verbrechen kommen konnte“. Die Geschichte des Antisemitismus reiche von heute bis in die Antike zurück.
Ein Jura-Professor fordert Werte- und Ethikunterricht für alle
Hilgendorf sieht den Keim für neuen Antisemitismus in der „enormen Zuwanderung aus dem arabischen Raum“. Viele Menschen seien ins Land gekommen, „denen von klein auf beigebracht worden ist, Israel als Feind und Juden als Gegner zu betrachten“. Aus diesem Grund sei die Integration der Flüchtlinge und ihre Hinführung zu den Werten der Aufklärung von größter Bedeutung. Hilgendorf forderte einen verpflichtenden Werte- und Ethikunterricht an den Schulen, den alle – Christen, Juden, Moslems, Agnostiker und Atheisten – besuchen müssten.
Die deutschen Redner sprachen über deutsche Verbrechen und Schuld, die Notwendigkeit des Erinnerns und die Lehren für heute.
John Stern, der amerikanische Jude, tat das mit keinem Wort. Während der Feier, vor über 120 Leuten im Max-Stern-Keller unter der Alten Uni, hielt er einen launigen Vortrag über seine Familiengeschichte. Er begann im 18. Jahrhundert und endete in den 1920er Jahren.
Alles ist gut, sagte er später im Gespräch mit unserer Redaktion. Den Gedanken von Erinnerung als Voraussetzung für die Aussöhnung zwischen nichtjüdischen Deutschen und Juden wehrte er ab. Die Täter lebten nicht mehr, wer heute lebt, trage keine Schuld.
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Roland Flade, Juden in Würzburg, 1918-1933 (Mainfränkische Studien, Bd. 34), 519 S., Würzburg (Freunde Mainfränkischer Kunst und Geschichte), 1985 (1. Aufl.), 1986 (2. Aufl.)
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Roland Flade, Die Würzburger Juden. Ihre Geschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Mit einem Beitrag von Ursula Gehring-Münzel, 433 S., Würzburg (Stürtz) 1987. Zweite, erweiterte Auflage, Würzburg (Königshausen & Neumann) 1997.
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Roland Flade, Der Novemberpogrom von 1938 in Unterfranken. Vorgeschichte, Verlauf, Augenzeugenberichte (Schriften des Stadtarchivs Würzburg, Heft 6), 142 S., Würzburg (Ferdinand Schöningh) 1988.
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Wagner, Ulrich (Herausgeber): Geschichte der Stadt Würzburg (Band 1). Von den Anfängen bis zum Ausbruch des Bauernkriegs. 2001 erschienen im Konrad-Theiss-Verlag, Stuttgart
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Wagner, Ulrich (Herausgeber): Geschichte der Stadt Würzburg (Band 2). Vom Bauernkrieg 1525 bis zum Übergang an das Königreich Bayern 1814. 2004 erschienen im Konrad-Theiss-Verlag, Stuttgart
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Wagner, Ulrich (Herausgeber): Geschichte der Stadt Würzburg (Band 3). Vom Übergang an Bayern 1814 bis zum 21. Jahrhundert. 2007 erschienen im Konrad-Theiss-Verlag, Stuttgart