Susanne Porzelt und Elisabeth Kirchner wissen nur allzu gut, mit welchen Dämonen Mädchen und Frauen kämpfen, die sexualisierte Gewalt erfahren haben. Die Sozialpädagogin und die psychologische Psychotherapeutin arbeiten für die Fachberatungsstelle des gemeinnützigen Würzburger Vereins "Wildwasser", der sich gegen sexuelle Gewalt an Mädchen und Frauen engagiert. Im Zug der aktuellen Diskussion um sexualisierte Gewalt im deutschen Schwimmsport, die durch eine ARD-Dokumentation entfacht worden ist und die auch den SV Würzburg 05 betrifft, mahnen Porzelt und Kirchner, den Blick vor allem auf die Betroffenen zu lenken.
Kritisch blicken die beiden Expertinnen auf den Würzburger Schwimmverein und das Verhalten der Verantwortlichen. Durch den ARD-Beitrag war öffentlich geworden, dass der als Sexualstraftäter verurteilte ehemalige Trainer Stefan Lurz seit Februar als kaufmännischer Mitarbeiter weiter beim SVW 05 angestellt war. Mit seinen Bewährungsauflagen war das rechtlich vereinbar. Doch stellt sich die Frage nach der Moral und einem angemessenen Opferschutz.
Stefan Lurz hat seine Stelle inzwischen gekündigt und ist aus dem Verein ausgetreten. Der Vorstand des SV Würzburg 05 äußerte sich Ende vergangener Woche zu dem Fall und der Aufarbeitung. Damit aber ist es nicht getan, meinen Porzelt und Kirchner. Im Interview erklären sie warum und beleuchten die Auswirkungen sexualisierter Gewalt auf die Betroffene - ob im Sport oder in anderen Bereichen.
Elisabeth Kirchner: Für die Betroffenen wäre es sicherlich wichtig, wenn die Vereinsleitung Verantwortung übernimmt für eigene Versäumnisse, fehlendes Hinschauen und Fürsorge für die Schwimmer und Schwimmerinnen in den vergangenen Jahren. Aufgrund der Vorkommnisse und Meldungen empfehlen wir nicht nur die angekündigte interne, sondern eine Aufarbeitung mit professioneller Unterstützung von außen. Gut ist jedenfalls der Verweis für möglicherweise weitere Betroffene an eine neutrale Anlaufstelle außerhalb des Vereins.
Kirchner: Die Folgen sind sehr unterschiedlich. Schlimm ist es, wenn man von einer Person missbraucht wird, der man vertraut hat, die man bewundert hat, die wichtig ist im Leben. Das können Elternfiguren sein, Trainer oder andere Menschen, die mir sehr nahe stehen und denen ich mich öffne. Ein Trainer kann mir im Hochleistungssport zum Beispiel sagen, was ich essen, wie ich trainieren, wo ich über die Grenze gehen muss. Er ist jemand, der sehr viel Macht über mich ausüben kann und ich muss ihm vertrauen, dass er das im Guten tut. Ich mag vielleicht auch mal nicht die dritte Stunde schwimmen und dann mache ich es, weil es der Trainer sagt. Sollte es in einen Bereich kommen, wo er andere Dinge von mir erwartet, die ich nicht gut finde, nehme ich das vielleicht auch erst mal hin. Das ist die Dynamik von Abhängigkeit und Machtmissbrauch.
Kirchner: Gerade im Sport denken Betroffene oft, sie müssen schweigen, um weiter erfolgreich zu sein. Sie wissen oft nicht, wo sie hingehen könnten, würden sie ihren Verein verlassen. Sie fragen sich, ob ihnen überhaupt jemand glauben würde, wenn sie von Übergriffen erzählen. Das sind die Konflikte, in denen sich Betroffene befinden, so lange die Gewalt anhält. Die weiteren Folgen sind ganz unterschiedlich. Manche haben Angst vor bestimmten Situationen, andere spalten ihre Gefühle ab. Andere versuchen nach dem Kontrollverlust im einen Kontrolle in anderen Lebensbereichen zu gewinnen und steuern zum Beispiel ihr Essverhalten. Da gibt es viele Facetten. Es ist möglich, dass Betroffene grundsätzlich das Gefühl von Sicherheit und Vertrauen verlieren.
Kirchner: Was wir öfters haben im Sport oder auch im Bereich Musik ist, dass Kinder sagen, sie wollen da nicht mehr hin, ohne genau zu erklären, warum.
Susanne Porzelt: Dass Mädchen sich möglicherweise selbst verletzen, sich zurückziehen und verschließen, kann ein Hinweis darauf sein, dass es ihnen schlecht geht. Auch wenn das andere Gründe als einen Missbrauch haben kann. Es ist leider so, dass es keine eindeutigen Anzeichen oder Auffälligkeiten gibt, von denen man sagen kann, sie lassen hundertprozentig auf sexuellen Missbrauch schließen. Auch Ängste und Schlafstörungen sind häufig. Dinge, die damit zu tun haben, dass die innere Sicherheit fehlt. In der Regel müssen Betroffene das Erlebte komplett mit sich alleine ausmachen. Das führt zu einer Vereinsamung. Deswegen ist es so ein riesengroßer Schritt, wenn Mädchen - oder auch Jungen - an die Öffentlichkeit gehen und sich wehren. Oder auch, wenn sie zu uns kommen und sich Hilfe holen. Das ist der erste Schritt. Eine Person zu finden, mit der ich reden, der ich vertrauen kann.
Porzelt: Im Sport ist Körperkontakt oftmals notwendig und normal. Da können Grenzen leichter verwischen. Beim Reitsport zum Beispiel, wenn aufs Pferd geholfen wird. Werden sie unangemessen berührt, denken Mädchen anfangs oft, das sei ein Versehen gewesen, da sei dem Trainer nur mal die Hand verrutscht. Sie trauen ihrer Wahrnehmung nicht. Dieser Selbstzweifel macht es extrem schwer, Missbrauch anzusprechen. Das wiederum ist nicht nur im Sport so, sondern überall.
Kirchner: Ein Urteil ist bedeutsam für Betroffene, weil damit gesellschaftlich anerkannt wird, dass jemand zum Täter geworden ist. Darüber hinaus ist es wichtig, dass sich der Verein um Aufarbeitung bemüht. Dass geschaut wird, was in den letzten Jahren nicht wahrgenommen worden ist, wo man hätte hinschauen müssen.
Porzelt: Wir vertreten die Haltung der Nulltoleranz. Das bedeutet, deutlich zu sagen, dass es hier in diesem Kreis keinen Raum für sexuellen Missbrauch gibt. Das wäre ein wichtiges Signal an alle, die mit dem Verein zu tun haben.
Kirchner: Auf jeden Fall kann man sich an eine Beratungsstelle wenden, auch wenn man noch nicht sicher ist, wie man einordnen soll, was passiert ist oder was es als Nächstes zu tun gilt. Wir ermutigen Betroffene dazu, sich an Eltern oder andere Vertrauenspersonen zu wenden. Die wichtigste Botschaft ist: Bleib damit nicht alleine!