Bis vor einem Jahr war der 8. März für Anastasiya Mykolenko ein ganz normaler Tag. Seit 2022 steht er für die junge Ukrainerin für tiefe Trauer: Es ist der Todestag ihres besten Freundes, Igor Moroz, der im Alter von 23 Jahren im Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine als Militärpilot im Kampf um Kiew getötet wurde. Bei einem Treffen erzählt die 25-Jährige von ihrem Freund und davon, wie es ihr seit seinem Tod ergangen ist.
Ihre Eltern sind seit der Geburt der Kinder befreundet, die Familien eng verbunden: Anastasiyas Mutter ist Igors Patentante. Die Kinder wachsen zusammen bei Charkiw im Nordosten der Ukraine auf, wo die Eltern der beiden arbeiten. "Als kleine Kinder waren wir von früh bis spät zusammen", erzählt Mykolenko, "später haben wir die Zeit nach der Schule zusammen verbracht, haben Fußball und Verstecken gespielt und sind Skateboard gefahren". Igor als ihr bester Freund habe sich immer für sie eingesetzt.
Igor gehörte zur Familie
2014, nach ihrem Schulabschluss, bricht Mykolenko mit 17 Jahren allein nach Deutschland auf. "Ich habe in der Schule Deutsch gelernt, für mich war klar, dass ich in ein deutschsprachiges Land ziehen werde", sagt sie. Ein Jahr verbringt die Ukrainerin in München und holt dort das Abitur nach, da ihr Schulabschluss in Deutschland nicht anerkannt wird. Dann beginnt sie in Würzburg ein Psychologie-Studium, das sie Anfang 2022 mit dem Master in Arbeitspsychologie abschließt.
"Mein einziges Urlaubsziel während meines Studiums war die Ukraine", sagt Mykolenko, "ich habe oft die ganzen Semesterferien dort verbracht." Und auch wenn sie nicht in der Ukraine ist: Der Kontakt zwischen Igor und ihren Eltern bleibt eng. "Er gehörte zur Familie", so die 25-Jährige.
Igor schlägt einen anderen Weg als seine Freundin ein: Mit 17 Jahren geht er zur Luftwaffe und beginnt ein Studium beim Militär, 2020 macht er seinen Abschluss an der Ivan Kozhedub Charkiw National University. Nach dem Abschluss tritt er als Offizier seinen Dienst als Helikopter-Pilot an. "Er wollte schon immer fliegen", sagt Mykolenko, "mit dem Beruf hat er seinen Traum gelebt".
Als der Krieg beginnt, verteidigt Igor den Himmel über Kiew vor russischen Angriffen. "Von seinen Kollegen weiß ich, dass er auch Angst hatte", sagt Mykolenko, "gleichzeitig war klar, dass er für die Ukraine alles tun würde". Bei einem der Einsätze wird Igors Hubschrauber abgeschossen, alle drei Insassen sterben.
Anastasiya Mykolenko kann den Tod ihres besten Freundes nicht glauben
Der 8. März 2022 ist schließlich der Tag, an dem Igor Moroz offiziell für tot erklärt wird. Zu dem Zeitpunkt gilt er bereits seit Wochen als vermisst; der Kontakt zu ihm war abgebrochen. "Keiner wusste, ob er noch lebt, oder ob er als Geisel gehalten wird", sagt Mykolenko. Als der Helikopter bei Kiew gefunden und Igors Abzeichen entdeckt wird, geht man davon aus, dass er beim Absturz umgekommen ist.
Als ihre Mutter ihr die Nachricht vom Tod ihres besten Freundes überbringt, kann Mykolenko es zunächst nicht glauben: "Ich dachte, er wird sich schon melden, bestimmt hat er gerade wenig Zeit". Und: "Wir sehen uns, wenn der Krieg vorbei ist", auch diesen Gedanken habe sie seit Kriegsbeginn im Kopf gehabt. "Dieses Nicht-glauben-wollen war eine Schutzreaktion, ich habe nicht mal geweint", so die 25-Jährige. Erst ein paar Wochen später realisiert sie, dass ihr Freund wirklich tot ist. Zu einem Besuch Igors bei Anastasiya in Deutschland kam es nie. "Wir haben immer Witze gemacht, dass er mich mit dem Hubschrauber in Würzburg besucht", sagt sie mit einem traurigen Lachen.
"Ein unglaublich positiver Mensch" sei Igor gewesen, "intelligent, locker, spielerisch, und extrem lustig – man konnte tagelang mit ihm lachen", außerdem "höflich und anderen gegenüber immer sehr wertschätzend".
Der Krieg ist auch in Deutschland fester Teil ihres Alltags geworden
Anastasiya Mykolenko ist überzeugt, dass sich ihr Freund seiner Berufswahl sehr sicher war. "Er hat sich bewusst für den Beruf des Militärpiloten entschieden", sagt sie. Er habe damit rechnen müssen, in ein Kriegsgebiet gehen zu müssen, "er kannte seine Pflichten dem Staat gegenüber". Sie habe ihn damals gebeten, seine Berufswahl noch einmal zu überdenken, doch er habe von einer hohen Position beim Militär geträumt.
Der Krieg in der Ukraine ist für Mykolenko, auch wenn sie in Deutschland ist, zu einem Teil ihres Alltags geworden. "Ich recherchiere nicht bewusst, es passiert inzwischen ganz automatisch", sagt sie. "Ich wache auf und schaue sofort auf meinem Handy nach, was passiert ist." Auf dem Messenger-Dienst Telegram gibt es Gruppen aus und über Charkiw, dort verfolgt Mykolenko, was in ihrer Heimatstadt passiert. Die Lage ist unsicher, seit einem Jahr sei die Stadt fast täglich Ziel von Bomben. "Es gibt nur wenige Tage, an denen nichts passiert ist."
Mykolenkos Eltern sind bei der Schwester in der Schweiz untergekommen
Einige ihrer Freundinnen sind dennoch nach Charkiw zurückgekehrt. Dort geht der Alltag trotz Krieg und Bombenangriffen, bei denen Häuser zerstört und Familien obdachlos werden, irgendwie weiter. Auch in eine Wohnung ihrer Eltern sei bereits zweimal eine Rakete geflogen, berichtet Mykolenko. Zwar stünde die Wohnung noch, sie bezweifle aber, dass die Statik des Gebäudes noch sicher sei. Ihre Eltern, die am vierten Kriegstag aus der Stadt und dem Land geflohen und bei Mykolenkos Schwester in der Schweiz untergekommen sind, konnten beim Verlassen der Heimat lediglich einen Koffer mit dem wichtigsten Hab und Gut mitnehmen.
Als Bekannte, die noch in Charkiw sind, Anastasiya Mykolenko per Facetime durch die Wohnung führen, in der sie aufgewachsen ist, bricht sie in Tränen aus. Die Bekannten schicken der 25-Jährigen per Post einige persönliche Dinge aus der Wohnung nach Deutschland. Beim Auspacken ergreift sie tiefe Traurigkeit: "Die Sachen haben nach zuhause gerochen", sagt Mykolenko bedrückt.
Stolz auf die große Solidarität der Ukrainer untereinander
Hat Anastasiya Mykolenko anfangs gedacht, dass der Krieg so lange dauern würde? "Nein", sagt sie, "erst dachte ich, dass der Krieg in ein paar Tagen vorbei sein würde." Russland werde aber nicht aufgeben, ist Mykolenko überzeugt.
Dass der Krieg eine große Solidarität unter den Ukrainern freigesetzt hat, macht Mykolenko bei aller Sorge und Trauer froh: "Ich habe mein Land schon immer geliebt", sagt sie. Wenn sie nun sehe, wie mutig, hilfsbereit und offen die Menschen in ihrer Heimat miteinander umgingen und sich gegenseitig unterstützten, sei sie stolz, eine Ukrainerin zu sein.
Am 8. März, dem ersten Todestag ihres Freundes, will Anastasiya etwas unternehmen, das sie an Igor erinnert. Was genau, weiß sie noch nicht. In ihren Träumen ist alles wie früher: "Ich wünschte, es wäre ein Tag im Sommer, und wir treffen uns da, wo wir aufgewachsen sind", malt sich Mykolenko ein Wiedersehen mit ihrem besten Freund aus. "Wir sitzen zusammen und reden über Gott und die Welt, wir lachen, erzählen und essen Schaschlik, so, wie wir es viele Sommer zuvor getan haben."
Gute Freunde hat hoffentlich jeder; und niemand will sie sterben sehen, erst recht nicht in einem aufgezwungenen Angriffskrieg.