Das Konzert im Bunker endet mit der ukrainischen Nationalhymne. Nach rasanten Interpretationen einiger 1990er-Jahre-Hits wird es schlagartig feierlich. Jeder singt mit. Das halbe Dutzend im Publikum steht vom Sofa an der Rückwand auf, vom gepolsterten Büro-Drehstuhl an der Seite oder vom wilden Teppichboden-Mix am Boden. Die drei Musiker legen ihre Hände auf die Brust. Die Band "Selo I Ludy" streamt aus einem Keller irgendwo im Bereich der ukrainischen Millionen-Metropole Charkiw. Draußen zerreißt das Grollen der Artillerie regelmäßig die Nacht. Unter der Erde feiern die Menschen das Leben in einem Gewölbe aus roten Vollziegeln. Nur der Schlagzeuger fehlt. Er ist mit seiner Frau aus der umkämpften Stadt geflohen. Die Drums kommen als Playback.
Frontmann Alexander drückt nach dem Konzert seine Freundinnen und Freunde. Am heutigen Abend sind sie sein einziges greifbares Publikum. Sascha gehört zu ihnen. Auf seinem Gesicht liegt ein Lächeln. Das Konzert hat ihm gut getan. Und das Bierchen samt Schaschlik vom Grill davor. Auf seinem Smartphone hatte er stolz Schäferhündin Jessica gezeigt. "Was für ein treuer Hund, sie ist uns zugelaufen", freut sich der 50-Jährige. Dann wird er ernst. Er erzählt vom Beschuss, von dem kleinen verlassenen Frontdorf, das er mit seiner Einhalt hält. Davon, wie tapfer sich selbst Hund Jessica hält.
Tausende leben aus Furcht vor Explosionen in Metro-Stationen unter der Erde
"Und glaubt mir, es klingt furchtbar, wenn eine Panzergranate pfeift. So nahe einschlägt, dass die Wände zittern." Das glaubt ihm jeder in der Runde. Granaten- und Raketeneinschläge sind in Charkiw seit dem 24. Februar zum Alltag geworden. Die nächste Ruine ragt keine 75 Meter Luftlinie entfernt auf. Kein Tag vergeht ohne neue Einschläge, neue Verletzte und viel zu oft neue Tote. Der Lärm des Kriegs ist zum Alltagsgeräusch geworden. Tausende leben aus Furcht vor Explosionen in Metro-Stationen unter der Erde.
"Genug, lasst uns den Abend genießen", sagt Frontsoldat Sascha. Eineinhalb Tage hat er Fronturlaub. Die erste Nacht außerhalb seiner Stellung seit Beginn der Invasion. Nachmittags darauf wird er in einem zerbeulten Kleinbus sitzen, seine schusssichere Westen mit den gefüllten Magazinen tragen, neben sich die Kalaschnikow. Ziel ist ein verlassenes Dorf an der Frontlinie. Für Hündin Jessica hat er eine Entwurmungskur in der Tasche.
"Ruschisten" als gängiger Begriff für die Invasoren aus dem Nachbarland
"Jeder hier von uns kämpft auf seine Weise für die Ukraine und die Freiheit. 'Selo I Ludy' zeigen der ganzen Welt, dass wir uns von den Ruschisten nicht unterkriegen lassen. Egal, wie viele Raketen sie noch schicken. Neulich waren 'Selo I Ludy' sogar in Deutschland im Fernsehen. Andere verteilen Hilfsgüter und sammeln für die Armee", sagt Sascha. "Ruschisten" ist in der Ukraine zum gängigen Begriff für die Invasoren aus dem Nachbarland geworden: eine Wortbildung aus Russen und Faschisten.
Sascha wurde gleich nach der aktuellen Invasion wieder Soldat. Er hatte schon 2014 gekämpft. Von den schweren Kämpfen im Donbas kehrte er traumatisiert zurück. Wenig später kam sein Sohn bei einem Unfall ums Leben. Er trägt schwer an dem Erlebten. Die Traurigkeit steht in seine hellen Augen geschrieben. Aber auch eine beeindruckende Gutherzigkeit.
Viele Menschen werden nach dem Krieg psycho-soziale Unterstützung brauchen
Vor der Invasion bildete sich der 50-Jährige in Kursen fort, um traumatisierten Veteranen aus dem Donbas-Krieg zu helfen. Damit schlug er einen für sich äußerst schmerzvollen Weg ein. Hörte er die Berichte vom Sterben und Töten, kamen die eigenen Erinnerungen wieder. Nicht selten mit voller Wucht. "Aber ich bin mir sicher, dass das meine Aufgabe ist. Menschen vertrauen mir, und ich kann ihnen zuhören. Ich verstehe nur zu gut, was sie erlebt haben", erklärt Sascha. "Und so will ich nach dem Sieg meine Arbeit und Ausbildung weiterführen. Es werden so viele sein, die dann psycho-soziale Unterstützung brauchen."
Dann packt er seinen Seesack, greift sich Weste und Kalaschnikow und nimmt Abschied von seiner Freundin Julia. "Putin will uns nicht entnazifizieren. Er will uns entukrainisieren. Darum geht es dem Imperialisten", meint er.
Psychotherapeutin Julia backt jetzt Brötchen für Soldaten
Am nächsten Abend, als Sascha wieder seine Stellung an der Front bezieht, sitzt Julia an einer uralten Nähmaschine aus Sowjetzeiten und erneuert den Saum an einer schusssicheren Weste. "Die geht morgen mit den Brötchen mit", sagt sie. Ihre Augen sind traurig. Eineinhalb Tage war Sascha da. Jetzt ist es wieder still in der Wohnung. Am nächsten Morgen macht sich die 40-Jährige auf den Weg zu einem ehemaligen Hostel. Es liegt in einem wunderschönen Stadtteil. Alte Kastanien stehen dort vor Häusern, die oft aus dem beginnenden 20. Jahrhundert stammen. "Ich liebe diese Stadt. Sie ist offen, schön und frei. So viel Kunst und Kultur sind hier zu Hause. Dafür und für meine Ukraine ist es wert, alles zu geben", sagt sie.
Dann ist sie in der Backstube angekommen. Mehlsäcke und Konservendosen türmen sich auf. Zusammen mit zwei weiteren Frauen bildet sie das Bäckerinnen-Trio. "Wir sorgen dafür, dass 1500 Soldaten ihre Brötchen bekommen", sagt Julia. "Ich bin Psychotherapeutin. Ohne die aktuelle Invasion hätte ich wohl in meinem ganzen Leben kein Brötchen gebacken", sagt sie lachend.
Dann erklärt sie, dass es drei Sorten Semmeln gibt. "Zwei davon sind Specials", sagt sie augenzwinkernd. Brötchen-Variante eins bekommt mit Metallformen den ukrainischen Dreizack im Ofen eingeprägt, Variante zwei hat einen "Nippel". "Damit unsere Soldaten auch etwas zum Lachen haben", schmunzelt Julia. Dann wird sie ernst. "Brot steht für etwas Fundamentales, das Leben ermöglicht. Ich will den Soldaten ein Stück Leben geben. Das ist eine wichtige Symbolik für mich." So steht Julia sieben Tage in der Woche fast zehn Stunden in der Backstube. Wenn es notwendig ist, surrt abends noch die alte Nähmaschine.
"Für Bürokratie ist jetzt keine Zeit"
Über die frischen Brötchen würde sich die 64-jährige Tatjana freuen. Lebensmittel bekommt die Rentnerin jedoch geliefert. Von Freiwilligen wie Konstantin. Bis zum 24. Februar ging es in Konstantins Leben steil bergauf. Davon erzählt sein recht neuer VW Tiguan, der gerade mit Lebensmitteln beladen wird. Der 28-Jährige arbeitete als Software Entwickler für ein US-Unternehmen.
Dann kam der Krieg in die Stadt. Die Front schob sich schnell bis in die ersten Vororte. "Ich wollte etwas tun. Eine private Initiative begann, Lebensmittel für Zivilisten und Ausrüstung für die Soldaten zu sammeln - und direkt auszuliefern." Konstantin meldete sich. "Zuerst ging alles über Freunde, und jetzt bringt uns schon ein Supermarkt Lebensmittel. So läuft das bei uns in der Ukraine. Für Bürokratie ist jetzt keine Zeit", sagt der Zwei-Meter-Mann mit der schusssicheren Weste. Dann steigt er in seinen Tiguan ein, der offensichtlich einiges bei den Fahrten in die gefährlichen Vororte einstecken muss. Dann braust er ab.
Zerbombte und ausgebrannte Wohnblocks wohin man schaut
In einem Viertel nahe der Front wohnt Tatjana. Sie freut sich über das, was geliefert wird: Milch, Brot, Krautsalat, Bulgur und Kekse. Die Helferinnen und Helfer stellen die Kisten auf einer Bank vor einem Wohnblock ab, der durch einen Einschlag stark beschädigt wurde. Kaum ein Fenster ist noch ganz. Splitter haben sich in den Beton gefressen. So und noch schlimmer sieht es im ganzen Viertel aus. Ein anderer Block ist fast komplett ausgebrannt.
Eine grauhaarige ältere Dame übernimmt die Verteilung der Lebensmittel. Ludmilla geht mit ihrer Liste penibel vor. Langsam bildet sich um die Bank eine Traube von meist älteren Menschen. Sie warten geduldig, keiner drängelt. Die Nachbarn nutzen die Gelegenheit zum Plausch. Auch Tatjana steht dort. Sie ist eine kleine Frau, 1,50 Meter groß. Für die Lebensmittel hat sie eine Plastiktüte mitgebracht. Als Ludmilla am Ende noch zwei Tüten mit Salzbrezeln aufreißt und die kleinen Backwaren Stück für Stück aufteilt, kann Tatjana die Tränen nicht mehr halten. "Sehen Sie, wie wir leben", sagt sie schluchzend.
Tatjana hat den Reaktorunfall in Tschernobyl überlebt
Den Journalisten will sie deshalb ihre Wohnung zeigen. "Wasser gibt es nicht mehr. Zwei Scheiben hat eine Explosion eingedrückt", erklärt sie und keucht die Stufen nach oben. Sie wohnt im siebten Stock. Und obwohl sie außer Atem ist, will sie viel erzählen. Davon, wie sie aus Tschernobyl fliehen musste. "Wir hatten ein gutes Leben dort, eine schöne, moderne Wohnung. Dann kam der Unfall. Mein Mann war Liquidator, räumte den Schutt weg, während ich schon in Sicherheit war. Er starb schwer krank vor zwölf Jahren an den Folgen der Verstrahlung", erklärt die Rentnerin. Sie selbst habe auch gesundheitliche Probleme. "Die Lunge arbeitet nicht so, wie sie soll. Das habe ich dem Reaktorunfall zu verdanken", erklärt sie.
Dann öffnet sie die Wohnungstür. Im Wohnzimmer steht ein großes, abgelassenes Aquarium. "Die Fische sind gestorben. Oft ist kein Strom da, und damit fällt die Sauerstoffpumpe aus", sagt die 64-Jährige. "Fast nur noch die Alten sind im Viertel. Alle anderen haben es hier nicht mehr ausgehalten. Einfach zu viele Einschläge. Das darf alles nicht sein. Bei Putin müssen wie gegen Hitler die Völker zusammenhalten. Dann klappt es, diesen Diktator zu stoppen", meint die alte Frau, deren Balkonverglasung mittlerweile zur Hälfte aus Pressspan-Platten besteht.