
Das Großraumtaxi der Lwiwer Stadtverwaltung bringt uns am Abend über das Kopfsteinpflaster der Altstadt zum Lytschakiwski-Friedhof an der Mechnykov-Straße. Den ganzen Tag über war der Himmel klar gewesen, entsprechend winterkalt ist es am Abend, als wir aussteigen. Auf dem 1787 angelegten Friedhof sind viele bekannte Persönlichkeiten der Stadt begraben, darunter Iwan Franko (1856-1916), einer der bekanntesten Dichter des Landes, nach dem auch die Universität von Lwiw benannt ist.

Doch beim Ausflug zum Friedhof geht es nicht um Sightseeing. Es ist der Abend des 23. Februar 2023, am nächsten Morgen jährt sich zum ersten Mal der Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine. Und deshalb ist unser Ziel auch nicht der historische Friedhof, sondern ein Gelände gleich neben der Friedhofsmauer. "Im vergangenen Jahr war hier noch eine Wiese", sagt Julia Spivak, unsere Begleitung aus Würzburg, die in der Ukraine aufgewachsen ist.
Vor unseren Augen tut sich ein riesiges Gräberfeld auf
Von der Wiese ist inzwischen fast nichts mehr zu sehen. Stattdessen tut sich vor unseren Augen ein riesiges Gräberfeld auf. An diesem Abend liegen die Gräber im Scheinwerferlicht, im Hintergrund steigen 30 Lichtstrahlen in den Himmel über Lwiw auf. Menschen stehen an den Grabstätten, legen Blumen nieder, umarmen sich, flüstern, weinen.
Nahezu täglich werden hier gefallene Soldaten beigesetzt. Insgesamt sind es aus Lwiw bisher 285, dazu kommen die Vermissten. Heute sind es zwei Gefallene: Die Männer waren 42 und 31 Jahre alt, die Tafeln mit ihren Bildern standen tagsüber vor dem Lwiwer Rathaus. Der Toten wird an jedem Tag gedacht, doch heute hat die Stadtverwaltung zum Jahrestag des Krieges auf dem Friedhof eine Gedenkveranstaltung angesetzt. Ein Bus mit Militärmusikern fährt vor, Soldaten postieren sich als Ehrenwache am Mittelgang zwischen den Gräbern, orthodoxe Priester nehmen Aufstellung.

Trotz der vielen Menschen liegt eine eigenartige Ruhe über dem Gelände. Der Wind lässt die unzähligen blau-gelben Fähnchen an den Gräbern flattern, an jedem Grab leuchten Lichter. Für uns im Westen ist der Krieg vor allem ein Thema aus den Nachrichten. An diesem Abend auf dem Lytschakiwski-Friedhof können wir erahnen, was Krieg eben bedeutet: zerstörte Leben, Wut, Trauer, Tod. Wenn man junge Frauen an den Gräbern ihrer Männer, kleine Kinder an den Gräbern ihrer Väter sieht, schnürt es einem den Hals zu.
Spontaner Dank an den Besuch aus Würzburg
Für Würzburgs OB Christian Schuchardt, der wenige Stunden nach der Unterzeichnung der Städtepartnerschaft mit Lwiw auf Einladung seines Amtskollegen Andrij Sadovyj auf der Gedenkfeier spricht, ist es wohl die schwierigste Ansprache der ganzen Reise. Er erinnert an Schutz und Zuflucht für Menschen aus der Ukraine in Würzburg, nennt die Verteidigung des Landes einen gerechten Krieg: "Es ist gerecht, sein Vaterland zu verteidigen, um in Frieden leben zu dürfen." Jetzt gehe es darum, ein klares Signal zu senden, dass das gesamte zivilisierte Europa zusammenhält: "Ich kann Ihnen versichern, dass die Bevölkerung der Stadt Würzburg und auch unser ganzes Land zu Ihnen steht." Die Botschaft kommt an, spontan bedanken sich hinterher Menschen bei dem Gast aus Würzburg.

Gemeinsam mit Andrij Sadovyj geht Schuchardt nach der Zeremonie durch die Gräberreihen. Beide Stadtoberhäupter stoppen an einem Grab im hinteren Bereich, sie stellen Lichter ans Holzkreuz. Daneben steht eine Frau, sie weint in den Armen ihrer Verwandten. Es ist die Mutter des jungen Mannes, der hier liegt. Der Soldat Wladislaw Wadimowitsch Beletschinskij wurde 20 Jahre alt.
Ein Jahr nach Beginn des Ukraine-Krieges ist eine Delegation aus Würzburg zu Gast in Lwiw in der Westukraine. Die 700.000-Einwohner-Stadt ist seit dieser Woche neue Partnerstadt von Würzburg.
Main-Post-Redakteur Torsten Schleicher begleitet die Würzburger Delegation und schildert in den "Ukraine-Notizen" seine Eindrücke.