Einige Monate später, als Mauer und verminte Zonengrenze Ost- und Westdeutschland teilten, wäre das unmöglich gewesen: Aber am Ostersamstag des Jahres 1961 stand die innerdeutsche Grenze noch offen und der 13-jährige Bernd Höland konnte aus dem heimischen Thüringen nach Berlin reisen und hier mit Vater und Bruder Westberliner Boden betreten. Die Mutter befand sich zu diesem Zeitpunkt bereits in Würzburg; bald lebte die Familie wieder zusammen – in einem Barackenlager in der Zellerau.
Würzburg zählte in jenem Jahr 1961 120.000 Einwohner, so viele wie vor der Zerstörung am 16. März 1945. Der Wiederaufbau lief auf Hochtouren – und doch gab es sie noch, die Barackensiedlungen wie jene für geflohene DDR-Bürgerinnen und Bürger. Im Lager zwischen Weißenburg-, Georg-Eydel-, Fasbender- und Steinachstraße lebten rund 650 Männer, Frauen und Kinder aus der DDR.
"Wir hatten nichts, als wir angekommen sind", erinnert sich Bernd Höland. "Wir waren froh, dass wir irgendwo unterkamen." In jeder der 20 Baracken waren vier Familien in jeweils einem Zimmer von 20 bis 30 Quadratmetern untergebracht; jedes Holzhaus verfügte über eine gemeinsame Toilette und eine Waschmöglichkeit für alle Bewohner, aber keine Dusche.
Heimisch auf engstem Raum in der Würzburger Zellerau
Das erscheint von der heutigen Warte aus primitiv, aber die Flüchtlinge sahen es anders. "Wir hatten uns mit der Enge und den Wohnverhältnissen arrangiert", sagt Höland. "Es war ein kleiner Raum, aber du hast dich dort heimisch gefühlt und der Herd hat ihn im Winter ordentlich geheizt. Meine Mutter hat die Holzwände zum Teil mit Tüchern oder alten Bettlaken abgedeckt und Bilder darauf gehängt, da sah es schon heller aus."
Nach etwa zweieinhalb Jahren konnten die Familie in eine Dreizimmerwohnung in der Friedrichstraße umziehen. Das Lager, so erinnert sich der langjährige Vorsitzende des Freundeskreises Würzburg-Suhl, wurde einige Jahre später aufgelöst. Unter anderem entstanden hier die Polizeiinspektion Würzburg-Land und das Landesamt für Finanzen.
Die Wiederaufbau war damals in Würzburg in vollem Gang. Von Dezember 1961 bis November 1962 wurden 1395 Wohnungen errichtet, 1963 weitere 635, 1964 noch einmal 632. Damit einher ging – erst 18 Jahre nach der Zerstörung der Stadt – das Ende der Trümmerräumung: Inzwischen waren 2.526.500 Kubikmeter Schutt abgefahren worden. Dabei hatte im ersten Merian-Heft 1948 ein Autor geschrieben, Würzburg werde "auf Generationen Trümmerstätte bleiben". Seine pessimistische, aus der damaligen Situation aber verständliche Prophezeiung ("Die Lebenden werden unter Trümmern die Augen schließen und ihre Kinder und Kindeskinder unter Trümmern hausen") war für jeden sichtbar nicht eingetreten.
Zwei am Reißbrett geplante Großwohnsiedlungen entstanden
Würzburg verzeichnete starken Zuzug, und der Wohnungsbau musste sich dem anpassen. Mit der Lindleinsmühle und dem Heuchelhof entstanden kurz hintereinander zwei hochverdichtete, am Reißbrett geplante Großwohnsiedlungen, die helfen sollten, die ständig wachsende Bevölkerungszahl in den Griff zu bekommen. Bereits 1958 hatte die "Gemeinnützige Baugesellschaft für Kleinwohnungen", eine der Wurzeln der heutigen "Stadtbau", damit begonnen, Grundstücke im geplanten Stadtteil Lindleinsmühle zu kaufen; 1961 beschloss der Stadtrat die Bebauung, zwei Jahre später rückten die Arbeiter an.
Außer der "Gemeinnützigen" sorgte unter anderem das kirchliche St. Bruno-Werk für den Aufbau der Lindleinsmühle. Zunächst entstanden vor allem Wohnblöcke und Hochhäuser, später auch Einzel- und Reihenhäuser; insgesamt zogen sich die Arbeiten über zwei Jahrzehnte hin. Zum letzten Bauabschnitt gehörten Häuser in der Hessenstraße. Im November 1983 konnten die ersten Mieterinnen und Mieter einziehen.
Eine von ihnen war Elke Seuffert. "Der Aufzug funktionierte noch nicht," erinnert sie sich an das Haus Hessenstraße 44, "die Treppe hatte noch kein Geländer. Das war eine ganz schöne Schlepperei." Die Bauarbeiter freuten sich: "Die konnten jetzt bei uns aufs Klo gehen und bekamen auch einen Kaffee oder ein Glas Wasser." Als immer mehr Menschen einzogen, enzwickelte sich eine verschworene Gemeinschaft, in der man sich umeinander kümmerte. Elke Seuffert: "Wenn wir jemanden zwei Tage nicht gesehen hatten und wir wussten, der war nicht in Urlaub, dann haben wir geklingelt und gefragt, ob was ist."
Heute leben rund 5000 Bürgerinnen und Bürger aus 80 Nationen in der Lindleinsmühle. Die Stadtbau ist mit 759 Wohnungen die größte Vermieterin. Der Name des Stadtteils und zwei Straßenbezeichnungen erinnern noch an die Vergangenheit, als hier außer der Lindleinsmühle – benannt nach den Linden an der Pleichach – die Straub- und die Neumühle standen.
Städtebauliche Entwicklung ab den 1960er Jahren am Heuchelhof
Ebenfalls in den 1960er Jahren bot sich noch eine weitere Chance für die städtebauliche Entwicklung Würzburgs, allerdings in ganz anderer Dimension: der Heuchelhof. Die Stadt hatte auf der Hochfläche von Freiherr Otto Philipp von Trockau und weiteren Landbesitzern 216 Hektar Land erworben. Zusätzliche Flächen kamen später durch die Eingemeindung von Rottenbauer hinzu, sodass insgesamt 456 Hektar Fläche zur Verfügung standen.
Die Planungen begannen 1964, der Ideenwettbewerb zeitigte 1965 erste Ergebnisse, die Heuchelhofgesellschaft wurde ein Jahr später gegründet, und noch Jahr danach begann der Bau der Heuchelhofstraße. 1971 starteten die Arbeiten an den Hochhäusern im Bereich H 1.
Einen völlig neuen Stadtteil zu bauen bedeutete Pionierarbeit auf allen Gebieten. Einer dieser Pioniere war der evangelische Pfarrer Hajo Petsch, der in seinen Erinnerungen über gemischte Gefühle beim ersten Besuch der künftigen Wirkungsstätte im November 1973 schrieb: "Eine Baustelle neben der anderen. Die vielen Baubuden überall verstärkten den Eindruck von einer Art ‚Goldgräberstadt‘."
Bis im Jahr 2000 die evangelische Gethsemanekirche eingeweiht wurde, galt es manche Notunterkünfte zu nutzen: Ein Gemeinderaum in einer Wohnung in der Brüsseler Straße 11 und eine von der Heuchelhofgesellschaft nicht mehr benötigte gelbe Baubaracke in der Den Haager Straße. Die konnte zwar beheizt werden, hatte aber keinen Toilettenanschluss. Immmerhin, so Petsch im Rückblick: "In den zwei Räumen der Baracke konnten sich unsere Mütter-Kinder-Gruppe sowie die Kindergruppe treffen."
Um der manchmal bedrückenden Enge des Gemeinderaums zu entgehen, griff Petsch dankbar das Angebot seines katholischen Mitbruders Pfarrer Erwin Kuhn auf, den Karfreitagsgottesdienst 1974 im katholischen Kirchenzelt am Straßburger Ring abzuhalten.
Die Häuser am Heuchelhof wurden wieder kleiner
Bereits 1975 schrieb die Stadt einen städtebaulichen Ideenwettbewerb für den südlichen Teil des Heuchelhofgebietes aus, der zunächst H 2 genannt und später in die Bauabschnitte H 2 bis H 7 unterteilt wurde. Die Geschosshöhen waren nun deutlich reduziert, gebaut wurden Ein- und Mehrfamilienhäuser, die in sogenannten "Rundlingen" kreisförmig angeordnet waren. So entstanden Wiener, Madrider, Prager und Athener Ring, später in H 7 noch der Moskauer Ring.
Im Stadtteil wohnen rund 10.000 Menschen, im H 1 etwa 3.500 aus 36 Nationen. Der aus der Heuchelhofgesellschaft und der Gemeinnützigen Baugesellschaft für Kleinwohnungen entstandenen Stadtbau gehören 828 Wohnungen auf dem Heuchelhof, das sind 15 Prozent des Gesamtbestands der Gesellschaft. Die Erfahrungen, die ihre Vorgänger mit der Lindleinsmühle und dem Heuchelhof gemacht haben, kann die Stadtbau jetzt bei der Entwicklung des neuen Stadtteils Hubland einbringen.
Der Artikel ist der letzte von vier Beiträgen einer Serie und basiert auf dem kürzlich erschienenen Buch "Wohnen in Würzburg. Neunzig Jahre Stadtbau".