Als Wildwasser e.V. im März 2019 sein 30-jähriges Bestehen feierte, da wussten die Mitarbeiterinnen des Würzburger Vereins gegen sexuelle Gewalt noch nicht, was auf sie zukommen würde: "Es war das anstrengendste Jahr bisher", sagt Geschäftsführerin Antje Sinn, die jetzt den Jahresbericht für 2019 vorgelegt hat.
Hauptgrund für die höchste Zahl an Erstanfragen in der Geschichte des Vereins waren die Ermittlungen gegen den Würzburger Logopäden Oliver H., der in seinen Therapiestunden in einer Vielzahl von Fällen Jungen zwischen zwei und sechs Jahren schwer sexuell missbraucht hat. Im Mai wurde er vom Landgericht Würzburg zu elf Jahren und vier Monaten Gefängnis verurteilt. "Der Logopäden-Fall hat Würzburg erschreckt und die Bevölkerung aufgerüttelt", so die Wildwasser-Geschäftsführerin.
Die Ermittlungen gingen bundesweit durch die Medien, bei Wildwasser gab es eine Welle von Anfragen – nicht nur von betroffenen und besorgten Eltern, auch von Personal aus Kindergärten und anderen Betreuungseinrichtungen. Der Verein hat nicht nur Opfer und ihre Eltern betreut und beim Strafprozess begleitet: Auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Einrichtungen wurden unterstützt und beraten.
So erschreckend und schlimm die Taten des Logopäden sind: Für die Mitarbeiterinnen der Wildwasser-Beratungsstelle sind sie nur die Spitze des Eisbergs: "Wir wissen von vielen anderen Fällen, in denen das Leid genauso unbeschreiblich schlimm ist", betont Sinn.
Wildwasser-Forderung: Die staatlichen Strukturen müssen besser ausgebaut werden
Sie und ihre Mitstreiterinnen fordern deshalb, dass die staatlichen Strukturen für den Kampf gegen sexuellen Missbrauch und die organisierte Kriminalität mit Kinderpornografie ausgebaut und personell besser besetzt werden. Außerdem seien deutschlandweit verpflichtende Schutzkonzepte für Betreuungseinrichtungen notwendig. "Auch in der Lehrer- und Erzieherausbildung muss es ganz normal sein, etwas über Kindesmissbrauch zu erfahren", fordert Sinn.
In 409 Fällen hat Wildwasser 2019 Beratungsgespräche und therapeutische Begleitungen für Betroffene sexualisierter Gewalt durchgeführt – deutlich mehr als in den beiden Jahren zuvor (2018: 356 / 2017: 309). Im laufenden Jahr hat sich die Gefahr von psychischer, körperlicher und sexualisierter Gewalt durch die lange häusliche Isolation als Folge der Corona-Pandemie noch einmal verstärkt, da die Täter und Täterinnen überwiegend aus der eigenen Familie kommen.
Nach Corona haben die Übergriffe zugenommen
"Wir wissen von vielen unserer Klientinnen, dass es schwierig wurde. Corona hat dazu beigetragen, dass Übergriffe zugenommen haben", berichtet Sinn. Nach dem Ende des Lockdowns habe es eine neue Welle von Anfragen gegeben.
Der jährliche Etat von Wildwasser von knapp 350.000 Euro wird zur Hälfte von Stadt und Landkreis getragen. Ein knappes Drittel der Finanzierung kommt Bayerischen Sozial- und Gesundheitsministerium und durch Spenden. Im vergangenen Jahr hat der Verein insgesamt rund 55.000 Euro an Spenden eingenommen, dazu kamen 15.000 Euro Erlös aus dem traditionellen Entenrennen auf dem Main, das in diesem Jahr wegen der Corona-Beschränkungen ausfallen musste.
Nicht nur im schlimmsten aller Fälle, wie hier, auch schon bei anderen Arten von Gewalt gegen Kinder innerhalb von Institutionen, ist es für Eltern oft schwierig, Gehör zu finden, geschweige denn ernst genommen zu werden. Das habe ich auch schon erlebt. Meist kann man ja nichts beweisen. Täter, ob nun körperliche oder "nur" psychische Gewalt ausgeübt wird, sind oft sehr manipulativ und können andere auf ihre Seite ziehen. Und dann steht man plötzlich als Elternteil am Pranger.
Wenn dann sowas wie in diesem Fall aufgedeckt wird, dann sind plötzlich alle ganz bestürzt. Vorher hat man die Eltern nicht ernst genommen.
Sehr bedrückend.