zurück
Würzburg
Seelisch kranke Migranten: Zu wenig Hilfe, obwohl klar ist, was nötig wäre
Experten benennen nach dem Messerangriff in Würzburg die Zwickmühle im Umgang mit psychisch kranken Gefährdern: "Wir wissen, wie es besser geht, aber wir können das nicht umsetzen." Doch warum nicht?
Blick auf die Gedenkstätte am Barbarossaplatz in Würzburg am Freitag, 2. Juli.  Eine Woche zuvor hatte ein psychisch kranker Somalier hier in einem Kaufhaus drei Menschen getötet, mehrere andere schwer verletzt. Jetzt diskutierten Experten über die Probleme bei der Behandlung  psychisch kranker Migranten. 
Foto: Patty Varasano | Blick auf die Gedenkstätte am Barbarossaplatz in Würzburg am Freitag, 2. Juli.  Eine Woche zuvor hatte ein psychisch kranker Somalier hier in einem Kaufhaus drei Menschen getötet, mehrere andere schwer verletzt.
Gisela Rauch
 |  aktualisiert: 08.02.2024 10:50 Uhr

Welche seelischen Notlagen erleben geflüchtete Menschen? Was sind die Ursachen; und wie sehen Behandlungsmöglichkeiten in der Region aus? Diese Fragen wollte der Ausländerbeirat Würzburg bei einer Podiumsdiskussion am Freitagabend in der Juristischen Fakultät der Uni Würzburg klären. Mit Blick auf den Regionalbahn-Angriff eines mutmaßlich afghanischen Flüchtlings im Jahr 2016 und den Messerangriff eines Somaliers in der Würzburger Innenstadt im Juni 2021 sprach der Vorsitzende des Ausländerbeirats Würzburg, Antonino Pecoraro, "von großen Tragödien“ in Unterfranken. "Wir dachten, es wäre gut, am 'Tag des Flüchtlings' mit Fachleuten einen Austausch zu machen“, sagte er. Die Freitagsdiskussion zeigte einerseits, dass es großen Handlungsbedarf gibt. Und andererseits extrem hohe Hürden, an denen Verbesserungsvorschläge aktuell scheitern.

Professor Dominikus Bönsch, Ärztlicher Leiter der Psychiatrischen Kliniken Lohr und des Zentrums für Seelische Gesundheit am König-Ludwig-Haus (ZSG: 'Das Risiko für psychische Erkrankungen ist bei Migranten erhöht.'
Foto: Thomas Obermeier | Professor Dominikus Bönsch, Ärztlicher Leiter der Psychiatrischen Kliniken Lohr und des Zentrums für Seelische Gesundheit am König-Ludwig-Haus (ZSG: "Das Risiko für psychische Erkrankungen ist bei Migranten erhöht."

Das Risiko für psychische Erkrankungen ist bei Migranten erhöht

Klar wurde bei der Diskussion, dass seelische Notlagen sehr viele Flüchtlinge betreffen. Viele von ihnen erleben Gewalt, Heimatverlust, Jobverlust oder Trennung von ihrer Familie – alles Faktoren, die psychiatrische Erkrankungen begünstigen. "Entsprechend erhöht ist das Risiko für psychische Erkrankungen bei Migranten“, betonte Professor Dominikus Bönsch, Leiter der Psychiatrischen Klinik in Lohr und des Zentrums für Seelische Gesundheit in Würzburg. Rund 30 Prozent der Patienten in der Lohr Klinik haben einen Migrationshintergrund. Mit Blick auf ihren Anteil an der Bevölkerung sind das überproportional viele.

"Menschen mit psychischen Erkrankungen bekommen in Deutschland nicht genug Hilfe – und Migranten noch weniger.“
Professor Jürgen Deckert, Leiter der Psychiatrischen Uniklinik Würzburg

Zwar seien gerade in letzter Zeit durch die Schaffung von neuen Kliniken und fünf psychiatrischen Ambulanzen die Kapazitäten für psychiatrische Behandlung in der Region deutlich erhöht worden, dennoch reichten die Therapiemöglichkeiten nicht, sagte Bönsch. "Menschen mit psychischen Erkrankungen bekommen in Deutschland nicht genug Hilfe – und Migranten noch weniger“, bilanzierte Professor Jürgen Deckert, Leiter der Psychiatrischen Uniklinik Würzburg.

Professor Jürgen Deckert, Direktor der Psychiatrischen Uniklinik Würzburg: 'Wir wissen, wie es besser geht, aber wir können das nicht umsetzen.' 
Foto: Thomas Obermeier | Professor Jürgen Deckert, Direktor der Psychiatrischen Uniklinik Würzburg: "Wir wissen, wie es besser geht, aber wir können das nicht umsetzen." 

Hemmnisse bei Behandlung von Migranten: Sprachprobleme und bürokratische Hindernisse

Die Kliniken seien gezwungen, trotz stark gestiegener Patientenzahl mit dem Personalschlüssel von 1990 und sehr niedrigen Erstattungssätzen durch die Kassen zu arbeiten, so Deckert weiter. Die Folge: Die Aufenthaltsdauer der Patienten in der Psychiatrie sei deutlich verkürzt, manchmal sogar "auf ein Fünftel reduziert“. Deckert: "Wie wir arbeiten, entspricht nicht dem Stand der Forschung. Wir wissen, wie es besser geht, aber wir können das nicht umsetzen.“ Dabei fallen Deckert und Bönsch zufolge Migranten öfter als Einheimische durchs Raster, weil bei ihnen zur Erkrankung noch bürokratische Hindernisse dazu kommen oder Sprachprobleme, die einen Dolmetscher nötig machen. Oft gelte für sie auch die Vorgabe, dass sie nur akut behandelt werden dürfen, aber keine Langfrist-Therapien bekommen.

Jose-Marie Koussemou, Chefarzt der Psychiatrischen Klinik  in Heidenheim an der Brenz: 'Das Arbeitsverbot für Geflüchtete muss abgeschafft werden!'
Foto: Thomas Obermeier | Jose-Marie Koussemou, Chefarzt der Psychiatrischen Klinik  in Heidenheim an der Brenz: "Das Arbeitsverbot für Geflüchtete muss abgeschafft werden!"

Chefarzt aus Heidenheim sieht Arbeitsverbot für Asylbewerber als Trigger für Suchterkrankungen

Wie wahrscheinlich ist eine Verbesserung des Systems? "Würde all das umgesetzt, was wir brauchen, kostete das Milliarden. Und die sehe ich nicht“, sagte Deckert am Rande der von Jurist Eniz Tiz moderierten Veranstaltung. Jose-Marie Koussemou, Chefarzt der Psychiatrischen Klinik in Heidenheim an der Brenz und selbst Migrant, machte sich vor überwiegend Fachpublikum stark dafür, das Arbeitsverbot für Asylbewerber zu kippen und Lagerunterbringung zu vermeiden. Sowohl Arbeitsverbot wie auch Gemeinschaftsunterkünfte nährten die Suchtproblematik und verursachten oder vergrößerten seelische Störungen.

Matthias Weber, Polizeidirektor Würzburg-Stadt: 'Wir erleben es nach wie vor, dass wir Gefährder zwei bis drei Mal die Woche aufgreifen.' 
Foto: Thomas Obermeier | Matthias Weber, Polizeidirektor Würzburg-Stadt: "Wir erleben es nach wie vor, dass wir Gefährder zwei bis drei Mal die Woche aufgreifen." 

Welche Schlüsse zog  interne Arbeitsgruppe der Polizei zur Verhinderung von Anschlägen?  

Wenn aus seelischen Notlagen Suchtprobleme erwachsen, aus einem Suchtproblem etwa eine drogeninduzierte Psychose und damit Realitätsverlust wird, droht Gefahr – nicht nur für den Betroffenen selbst, sondern für die ganze Gesellschaft. Dies machte mit Blick auf die Angriffe durch Flüchtlinge in der Region Matthias Weber, der Polizeidirektor der Stadt Würzburg, deutlich. "Ich bin, wie die Psychiatriechefs, auch der Meinung, dass man mehr tun müsste“, sagte Weber. Aus seinen Ausführungen ging aber auch hervor, dass der Polizei oft die Hände gebunden sind. Nach den Anschlägen von 2016 in Würzburg und Ansbach sei seine Dienststelle vom Innenministerium beauftragt worden, in einer internen Arbeitsgruppe zu prüfen, wie man verhindern könne, dass psychisch belastete Migranten Straftaten begingen. "Wir haben in unserem Bereich 21 psychisch belastete Migranten mit einer überdurchschnittlich hohen Wahrscheinlichkeit für Anschläge herausgefiltert“, berichtete Weber.

"Wir erleben es nach wie vor oft, dass wir Gefährder zwei oder drei Mal pro Woche aufgreifen, dass wir sie einweisen in die Psychiatrie und dass sie dort nach einem Tag wieder entlassen werden müssen.“
Matthias Weber, Polizeidirektor der Stadt Würzburg

Doch die Erkenntnis der Arbeitsgruppe habe keine Folgen gehabt. Denn die rechtlichen Voraussetzungen, etwaige Gefährder in Gewahrsam zu nehmen, hätten sich nicht geändert und blieben streng.  "Damit war’s das auch schon“, sagte  Weber. Abgesehen von der Empfehlung, dass sich etwa Psychiatrie, Ämter und Polizei besser vernetzen müssten, sei nichts passiert.  Weber: "Wir erleben es nach wie vor oft, dass wir Gefährder zwei oder drei Mal pro Woche aufgreifen, dass wir sie einweisen in die Psychiatrie und dass sie dort nach einem Tag wieder entlassen werden müssen.“ Wie anlässlich des Würzburger Messerangriffs vom Juni mehrfach berichtet, muss ein zwangseingewiesener Patient entlassen werden, wenn er nicht behandelt werden will und keine akute Eigen- oder Fremdgefährdung vorliegt.

Lohrer Chefarzt: Von 2500 zwangseingewiesenen Patienten nur 30 gegen ihren Willen in Therapie

Dass die aktuelle Rechtslage es kaum erlaubt, mögliche Gefährder psychiatrisch zwangszubehandeln, zeigen auch Zahlen: "2020 wurden ins Bezirksklinikum Lohr 2500 Menschen zwangseingewiesen“, so Chefarzt Bönsch. Von diesen 2500 Menschen hätten aber nur 30 auch gegen ihren Willen behandelt werden können. Nur bei diesen 30 waren die rechtlichen Voraussetzungen für eine Zwangsbehandlung erfüllt. „Die Sinnhaftigkeit dieser Regelung erschließt sich mir nicht ganz“, kritisierte Bönsch. Auch Psychiatriechef Deckert plädierte am Rande der Veranstaltung dafür, behandelnden Psychiatern mehr zeitlichen Spielraum bei Zwangsbehandlungen zu geben. Gefahren durch seelisch kranke Gefährder könnten so möglicherweise reduziert werden.

 
Themen & Autoren / Autorinnen
Würzburg
Gisela Rauch
Chefärzte
Erwachsene
Matthias Weber
Messerattacke Barbarossaplatz
Messerstechereien
Migranten
Polizei
Psychiater
Psychiatrie
Psychische Erkrankungen
Sprachprobleme
Stadt Würzburg
Suchtkrankheiten
Universitätskliniken
Lädt

Damit Sie Schlagwörter zu "Meine Themen" hinzufügen können, müssen Sie sich anmelden.

Anmelden Jetzt registrieren

Das folgende Schlagwort zu „Meine Themen“ hinzufügen:

Sie haben bereits von 50 Themen gewählt

bearbeiten

Sie folgen diesem Thema bereits.

entfernen