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Würzburg
Nach Corona im Nikolausheim: "Ich weiß, dass es uns wieder treffen kann"
Zu Beginn der Pandemie geriet das Würzburger Seniorenheim in die Schlagzeilen: 25 Bewohner starben an dem Virus. Im Interview blickt Stiftungsdirektorin Annette Noffz zurück.
Die Direktorin der Stiftung Bürgerspital: Annette Noffz
Foto: Ulises Ruiz | Die Direktorin der Stiftung Bürgerspital: Annette Noffz
Benjamin Stahl
 |  aktualisiert: 08.02.2024 11:06 Uhr

Zu Beginn der Corona-Krise infizierten sich im Würzburger Seniorenheim St. Nikolaus 75 der rund 170 Bewohner, 25 starben. Die Einrichtung der Stiftung Bürgerspital geriet bundesweit in die Schlagzeilen, wurde ein Symbol der tödlichen Pandemie. Im Interview bezieht Stiftungsdirektorin Annette Noffz Stellung zu Vorwürfen, die immer wieder erhoben werden, blickt zurück auf ihr schwieriges Jahr und erklärt, was sich in der Pflege ändern muss.

Frage: Der erste Corona-Fall in Unterfranken wurde am 5. März registriert. Schon am 8. März wurde der erste Fall im Nikolausheim bekannt. Waren Sie überrumpelt wie schnell das ging? 

Annette Noffz: Ich war schon überrascht, als es bei uns angefangen hat. Aber überrumpelt davon, dass es ein großes Problem wird, war ich nicht. Der Gedanke, dass es grässlich wird, der hat sich leider schnell eingestellt.

Waren Sie überhaupt schon auf einen Ausbruch vorbereitet?

Noffz: Wie hätten wir das zu diesem Zeitpunkt sein können? Wir sind nicht klüger als die Mediziner. Was das Wissen über das Virus angeht, konnten wir also nicht vorbereitet sein. Wir haben alle erst im Laufe der Monate gelernt. Anfangs war ja noch nicht einmal klar, welche Schutzausstattung wirklich hilft. Zum Glück hatten wir neben Handschuhen auch einen Vorrat an FFP2- und FFP3-Masken, denn wir haben immer wieder etwa mit einem Norovirus zu tun oder Bewohner mit offenen Wunden, die wir dann entsprechend pflegen. Aber unsere Vorräte wurden schnell knapp, weil nun alle mit Maske arbeiteten und die Ausstattung auch laufend gewechselt werden musste. Nachschub zu bekommen, das war in den ersten sechs bis acht Wochen - neben der Versorgung der Bewohner und dem Auffangen des personellen Engpasses - unser Hauptthema.

"Was ich nicht in Ordnung finde, ist reißerische Berichterstattung, die immer wieder suggeriert, dass da jemand Fehler gemacht haben muss."
Annette Noffz über das mediale Echo zur Lage im Nikolausheim
Fühlten Sie sich...

Noffz: ... allein gelassen? Die Frage wurde mir immer wieder gestellt, damit kann ich aber nicht viel anfangen. Ich glaube jeder, egal wo, fühlte sich allein gelassen, weil niemand wusste, wie wir mit Corona umgehen sollen. Trotz aller Unsicherheiten gab es aber immer wieder Unterstützung und Hilfestellung – nicht für jeden immer so, wie er es gerade gebraucht hat. Sonst hätten wir zum Beispiel auch mehr Personal von außen bekommen. Das war zu der Zeit aber nicht möglich.

Das Seniorenheim St. Nikolaus im Würzburger Stadtteil Sanderau.
Foto: Silvia Gralla | Das Seniorenheim St. Nikolaus im Würzburger Stadtteil Sanderau.
Wenn man in einem Seniorenheim lebt und mitbekommt, dass der Zimmernachbar stirbt, die Pflegerin erkrankt und man selbst isoliert wird – das muss für Bewohner eine schwierige Situation gewesen sein.

Noffz: Natürlich hat das bei vielen Sorgen und Ängste ausgelöst und auch die Isolation war schrecklich. Die Mitarbeiter haben versucht, auf die Bewohner einzugehen, sie bestmöglich zu betreuen, obwohl sie natürlich auch selbst besorgt und zugleich extrem belastet waren.

Sie haben das Personal angesprochen. Insgesamt haben sich 38 Mitarbeiter im Nikolausheim infiziert. Wie war die Stimmung unter dem Pflegepersonal und wie haben Sie die Personalnot gelöst?

Noffz: Es waren tatsächlich sehr schnell sehr viele erkrankt und mussten in Quarantäne. Wir haben dann Personal aus eigenen Einrichtungen umgesetzt. Zum Beispiel haben wir in unserer geriatrischen Einrichtung den stationären Bereich innerhalb von drei Wochen geschlossen – so schnell wie irgend möglich. Auch Therapeuten haben mitgeholfen und Kollegen, die in der Verwaltung arbeiten. Insgesamt war unter den Mitarbeitern ein großer Zusammenhalt spürbar – füreinander und für die Bewohner. Sie alle wollten das gemeinsam durchstehen.

Sehr schnell geriet das Nikolausheim bundesweit in die Schlagzeilen: Eine zusätzliche Herausforderung speziell für Sie?

Noffz: Oberste Priorität war, mich um die Bewohner und Mitarbeiter zu kümmern: Wo bekommen wir Schutzausrüstung her? Wie schaffen wir das personell? Das musste Vorrang haben. Ich habe mich dennoch bemüht, Informationen in Ruhe und in sachlicher Form weiterzugeben. Bei der Fülle an Anfragen, habe ich aber schon auch mal gesagt, jetzt geht es gerade nicht mehr. Das ist nicht immer gut angekommen.

Dass bei der Vielzahl an Corona-Fällen im Nikolausheim das öffentliche Interesse groß war, ist aber verständlich.

Noffz: Das ist auch in Ordnung. Natürlich wären wir lieber mit positiver Berichterstattung in der "Tagesschau" gelandet. Aber damit müssen wir leben. Was ich nicht in Ordnung finde, ist reißerische Berichterstattung, die immer wieder suggeriert, dass da jemand Fehler gemacht haben muss. Das hat mir ganz besonders für die Mitarbeiter leidgetan. Für die war das eine ganz bittere Pille. Es wurde ihnen sogar von Reportern aufgelauert und gefragt, wie es ist, in einem "Todesheim" zu arbeiten.

Die Schuldfrage wurde ja juristisch geklärt: Die Staatsanwaltschaft hat ermittelt und die Ermittlungen längst eingestellt. Aber mögliche Fehler zu benennen und daraus zu lernen, das ist schon wichtig. Sie hatten auch Pech, dass das Nikolausheim tragische Blaupause war.

Noffz: So ist es. Wir müssen aus dem Ganzen etwas lernen, das halte ich für eine sehr wichtige Aufgabe. Und es ist gut, dass nachgefragt wird, wenn so schnell so viele Leute betroffen sind und sterben. In manchen Medien ging es aber immer wieder ganz schnell um Schuldzuweisung. Bis hin zu der Äußerung, die auch über die "heute"-Nachrichten verbreitet wurde, dass ein Pfleger das Virus ins Haus getragen hat. Das war völlig aus der Luft gegriffen.

"In den ersten knapp drei Wochen hatten wir keine Möglichkeit, alle Bewohner und Mitarbeiter zu testen, um überhaupt feststellen zu können, wer bis zu diesem Zeitpunkt infiziert war."
Annette Noffz über die Probleme zu Beginn der Krise
Man konnte nie klären, wie das Virus ins Haus kam.

Noffz: Wir wissen nicht, wie es eingeschleppt wurde. Wir waren ja ganz am Anfang der Krise. Da durften die Bewohner natürlich noch ganz normal besucht werden. Aber ob es über Besucher, Angehörige, Dienstleister oder Pflegekräfte ins Haus kam, das konnten wir nicht nachvollziehen.

Verständlicherweise waren Angehörige sehr besorgt. Wie war da die Stimmung?

Noffz: Ängste waren da. Insgesamt gab es aber viel Verständnis und auch moralische Unterstützung von fast allen Angehörigen. Vorwürfe direkter Art so gut wie nicht. Das kam vor allem über die Medien.

Zuletzt behaupteten Angehörige in der "Bild"-Zeitung erneut, man habe die Infizierten zu spät von den Nicht-Infizierten getrennt.

Noffz: In den ersten knapp drei Wochen hatten wir keine Möglichkeit, alle Bewohner und Mitarbeiter zu testen, um überhaupt feststellen zu können, wer bis zu diesem Zeitpunkt infiziert war. Über diese fehlende Testmöglichkeit wurde damals auch berichtet. Sofort nach der ersten Reihentestung wurde die Kohortenisolierung vorbereitet und dann auch durchgeführt.

Großeinsatz Ende März: Die 44 Bewohner, die zu dem Zeitpunkt positiv auf das Coronavirus getestet worden waren, wurden von den gesunden Bewohnern getrennt.
Foto: Heiko Becker | Großeinsatz Ende März: Die 44 Bewohner, die zu dem Zeitpunkt positiv auf das Coronavirus getestet worden waren, wurden von den gesunden Bewohnern getrennt.
Kritik gab es auch an der Kommunikation.

Noffz: Unsere Mitarbeiter vor Ort und in der Verwaltung haben die Angehörigen mit den wichtigsten Neuigkeiten auf dem Laufenden gehalten. In den ersten Tagen wurden wir jedoch überrollt, mussten uns um ganz viele Dinge gleichzeitig kümmern. Da blieb leider nicht immer die Zeit, um alle Angehörigen umgehend zu informieren. In der Folge haben wir aber regelmäßig die Angehörigen angerufen, vor allem als die Reihentestungen liefen. Das Bemühen, Angehörige möglichst schnell zu informieren, das war vorhanden. In der öffentlichen Wahrnehmung ist es häufig zu wenig.

Haben Sie hier Dinge verändert? Gibt es zum Beispiel einen Mail-Verteiler, der Angehörige regelmäßig mit Neuigkeiten versorgt?

Noffz: Menschen wollen unterschiedlich erreicht werden. Einige haben keine Mail-Adresse. Wir versuchen auf die individuellen Bedürfnisse einzugehen und dabei so viele Informationen herauszugeben, damit jeder zufrieden ist. 

Ende April hat sich die Lage dann etwas entspannt. Zwei Monate klingt nach einem überschauberen Zeitraum. Für Sie, Ihre Mitarbeiter und die Bewohner muss sich die Zeit aber endlos angefühlt haben.

Noffz: Es gab keine Pause, keine Entspannung. Auch wenn es natürlich besser wurde, je mehr Mitarbeiter mit der Zeit aus der Quarantäne zurückkamen. Die größte Erleichterung erlebten wir, wenn sich ein Bewohner von einer Infektion erholt hatte und außer Lebensgefahr war.

"Man kann einem Enkelkind auch nicht verbieten mal zur Oma auf den Schoß zu krabbeln."
Annette Noffz über die Infektionsgefahr an den Feiertagen
Im Juli gab es dann einen scheinbaren Rückfall, als ein Bewohner erneut positiv getestet wurde.

Noffz: Das war im Rahmen eines Reihentests. Ein Virologe hat mir den Fall erklärt und dabei von "Virenschrott" gesprochen: Virenreste, die sich in der Lunge ansammeln, nicht mehr infektiös sind, aber einen positiven Test verursachen. Es wurde dann von einem neuen Fall gesprochen, die Erklärung, was dahintersteckte, ging unter. Das hat mich geärgert.

Ist bei Ihnen inzwischen so etwas wie eine Corona-Normalität eingezogen?

Noffz: Haben wir uns daran gewöhnt, dass Menschen erkranken und sterben? Das will und kann ich nicht. Wir müssen mit der Anspannung leben. Dabei ist für uns sehr wichtig, dass wir die Möglichkeit haben, sowohl Bewohner als auch Mitarbeiter regelmäßig zu testen. Und das am besten mit den besonders sicheren PCR-Tests. Nur dann haben wir überhaupt eine Chance, frühzeitig eingreifen zu können.

Die jüngsten Corona-Fälle in anderen Heimen wirken da nicht gerade beruhigend.

Noffz: Ich fühle mit denen, die dort in der Verantwortung sind. Und wir achten darauf, alles zu tun, um zu verhindern, dass wir wieder in eine solche Situation kommen. Leider weiß ich, dass es uns wieder treffen kann. Wir können und wollen nicht verhindern, dass Besuche stattfinden oder unsere Bewohner rausgehen. Das einzige, was ginge, wäre die komplette Abschottung. Aber das will niemand.

Haben Sie Angst vor Weihnachten? Dass etwa in Familien, die ihre Angehörigen an den Feiertagen nach Hause holen, weniger auf Abstand geachtet wird als in den Heimen?

Noffz: Das wird in manchen Fällen auch so sein. Man kann aber einem Enkelkind auch nicht verbieten mal zur Oma auf den Schoß zu krabbeln. Angst ist jedoch nicht das richtige Wort. Ich habe Sorge und hoffe, dass wir die Möglichkeit haben, durch Tests rechtzeitig reagieren zu können.

Kam am Ende dieses Jahres im Nikolausheim so etwas wie Vorweihnachtsstimmung auf?

Noffz: Corona steckt uns allen in den Knochen. Weihnachtsfeiern wie bisher oder Gottesdienstbesuche gibt es natürlich nicht. Trotzdem werden mal gemeinsam Plätzchen gebacken – halt mit Abstand. Oder es werden Weihnachtslieder gehört, singen geht nicht. Es wird so viel gemacht, wie es auch die Kapazitäten zulassen: Der Aufwand für unser Personal vor dem Hintergrund der Hygiene-Maßnahmen, der Besuchsregelung, der Testung von Mitarbeitern und so weiter – der ist sehr hoch, und das alles soll theoretisch in der gleichen Arbeitszeit stattfinden. In der Realität kommt es da zu vielen Überstunden und wir müssen aufpassen, dass unsere Mitarbeiter nicht irgendwann völlig über der Grenze sind.

Zu Beginn der Corona-Krise wurde für Pflegekräfte geklatscht, besserer Lohn gefordert. Findet ein nachhaltiges Umdenken beim Thema Pflege statt?

Noffz: Alles, was die Pflege vorher schon belastet hat, ist durch die Pandemie noch deutlicher zutage getreten. Vor diesem Hintergrund haben wir jetzt eine Riesenchance, Dinge zu verbessern. Deswegen haben wir auch die Initiative "Dienst-Tag für Menschen" gegründet. Es darf nicht bei dem Applaus bleiben, sondern es müssen die Rahmenbedingungen grundlegend verbessert werden.

Wo liegen die Probleme? Liegt es an der Bezahlung?

Noffz: Das ist nicht der Hauptgrund, zumindest nicht dort, wo nach Tarif bezahlt wird. Das Problem ist die Gesamtsituation: Das Interesse einen helfenden und unterstützenden Beruf zu ergreifen, ist zurückgegangen. Gleichzeitig haben wir eine demografische Entwicklung, die dem zuwiderläuft. Die Frage ist: Warum brennen Menschen so schnell aus, wenn sie in einem Pflegeberuf sind?

Und die Antwort?

Noffz: Der Schichtdienst, Arbeitszeiten auch an den Wochenenden und Feiertagen wie Weihnachten oder Silvester. Wegen des Personalmangels und der hohen Krankheitsquoten müssen häufiger kurzfristig Schichten übernommen werden. Der Beruf ist körperlich und psychisch anstrengend. Das ist derzeit eine Spirale nach unten. Die größte Gefahr ist, dass wir nach Corona so weitermachen wie zuvor. Wir dürfen die Zeit nicht ungenutzt verstreichen lassen.

Sie wurden Anfang des Jahres über Nacht zur Krisenmanagerin. Was nehmen Sie aus diesem Jahr mit?

Noffz: Die wirkliche Verarbeitung wird erst stattfinden können, wenn die Corona-Krise vorbei ist. Aber es gibt für mich schon jetzt eine wichtige Erkenntnis: Das Team des Bürgerspitals ist noch stärker zusammengewachsen und wir haben in der Zeit unglaublich viel Unterstützung bekommen. Dafür bin ich sehr dankbar.

 
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