
Der handgeschriebene Brief, der die Redaktion vor einigen Wochen erreicht hat, birgt Zündstoff. Ein früherer Mithäftling des Mörders, der im Januar aus einem Regensburger Gerichtsgebäude geflohen ist, behauptet darin, über Informationen zu verfügen, die ein anderes Bild auf den Fall werfen.
Glaubt man dem Briefschreiber, hätte die Flucht des 40-Jährigen durch das unverschlossene Fenster eines Anwaltszimmers nicht nur verhindert werden können. Der Mann spricht auch von Versäumnissen in der JVA Würzburg, wo der Mörder zuletzt einsaß und seine Flucht geplant haben soll.
Wir treffen den Absender des Briefes in einem bayerischen Gefängnis, in das er Ende Januar aus Würzburg verlegt wurde. Sieben Monate hat er von seiner insgesamt fünf Jahre dauernden Haft noch vor sich. Er wirkt seriös, erzählt seine Version der Geschichte voller Überzeugung.
Demnach sei der aus Algerien stammende Mörder einer Nürnberger Kiosk-Besitzerin Ende 2022 in die JVA Würzburg gebracht worden. Dorthin, wo auch unser Gegenüber damals inhaftiert war: "auf der Station 2 in Haus D". Schon vor der Ankunft des Mörders sei bei den Justizvollzugsbeamten "Nervosität deutlich wahrnehmbar" gewesen, sagt der Briefschreiber. Anderen Gefangenen gegenüber habe sich der Neuling "reserviert, aber durchaus freundlich" verhalten.
Eine Fußverletzung vorgetäuscht, um keine Fessel tragen zu müssen?
Dass der Mörder in Würzburg inhaftiert wurde, war durchaus ungewöhnlich. Normalerweise sitzen hier keine kriminellen Großkaliber. Der 40-Jährige saß laut Ermittlungsbehörden zunächst in Straubing, wo er einen JVA-Bediensteten angriff - der Grund für das Verfahren am Gericht in Regensburg. Anschließend, behauptet der Briefschreiber, soll der Mann in die JVA Kaisheim, 50 Kilometer nördlich von Augsburg, verlegt worden sein, wo er einen Mithäftling angegriffen habe. Schließlich kam er nach Würzburg.
Dort, erzählt unser Gegenüber weiter, habe er etwa eine Woche vor dem Gerichtstermin in Regensburg nach einem Fußballspiel eine Fußverletzung vorgetäuscht. "Um von der Fußfesselpflicht bei der Verhandlung befreit zu werden." In der medizinischen Abteilung der JVA Würzburg habe er ein entsprechendes Attest ausgestellt bekommen.
Mini-Handy angeblich im Haardutt versteckt
Einen Tag vor der Flucht will der Mithäftling in der Dusche unbemerkt ein Gespräch des Mörders mit einem Vertrauten mitbekommen haben. Dabei habe der Algerier erzählt, "dass er nun bald abhauen würde", dass er erst nach Frankreich zu seiner Familie wolle, dann weiter nach Spanien und mit der Fähre nach Marokko. "Ich wollte das dem diensthabenden Vollzugsbeamten mitteilen", erzählt der Briefschreiber. Noch am selben Abend. Doch der JVA-Mitarbeiter habe ein Gespräch abgelehnt.
Als der Mörder am 5. Januar geflohen ist, findet der Mithäftling doch Gehör. Wenige Stunden später sei er von der Kriminalpolizei "unter größter Geheimhaltung" vernommen worden - und habe den Beamten entscheidende Tipps gegeben: Die Fluchtroute und dass der Mörder in der JVA Würzburg ein sogenanntes Mini-Handy gehabt habe, das er immer in seinem Haardutt versteckt habe. "Zweimal hat er mich damit meine Frau anrufen lassen." Wenig später sei es der Polizei mithilfe des Handys der Ehefrau gelungen, die Nummer des Flüchtigen zu rekonstruieren und ihn zu orten. Am 9. Januar wurde der Mörder in Frankreich im Auto seiner Schwester festgenommen.
Handynummer führte Ermittler auf die Spur des Geflüchteten
Ein geschmuggeltes Handy, ein heimlich mitgehörter Fluchtplan, ein Häftling, der der Polizei hilft - Stoff für einen Krimi. Doch was ist dran? Tatsächlich bestätigt Thomas Rauscher, Sprecher der zuständigen Staatsanwaltschaft Regensburg auf Anfrage der Redaktion weite Teile der Geschichte: "Es trifft zu, dass der Mitgefangene" die Kriminalpolizei Würzburg "darüber informiert hat, dass der Geflohene in der JVA ein Mobiltelefon verwendete" und angab, dass der Mörder "über die 'Transitroute' Frankreich-Spanien-Marokko fliehen" wolle.
Und ja: Die Nummer des genannten Handys, "konnte letztlich über den Anrufverlauf im Mobiltelefon der Ehefrau des Zeugen ermittelt werden", so Rauscher weiter. Zwar seien "vielfältige potenzielle Mobilfunknummern des Geflohenen überwacht" worden. Letztlich habe sich jedoch gezeigt, "dass die von der Ehefrau des Mitgefangenen genannte Mobilfunknummer mit hoher Wahrscheinlichkeit tatsächlich vom Geflohenen genutzt wurde". Anhand von Funkzellendaten sei festgestellt worden, "dass sich das Telefon in Richtung Frankreich bewegte", sagt Rauscher. "Zu diesem Zeitpunkt war polizeilich bereits bekannt, dass die Familie des Geflohenen in Frankreich lebte."
Dass ein Würzburger Vollzugsbeamter ein Gespräch mit dem Mithäftling abgelehnt habe, bestätigt Rauscher allerdings nicht. "Hierfür gibt es keine Beweise", so der Sprecher der Staatsanwaltschaft. Einen Tag nach der Flucht des Mörders habe sich der Zeuge der Unterhaltung in der Gefängnisdusche an die JVA-Leitung gewandt. Bei den anschließenden polizeilichen Vernehmungen habe er einen "Gesprächsversuch", bei dem er den mitgehörten Fluchtplan offenbaren wollte, "nie thematisiert".
Dennoch: Der mutmaßliche Fluchtplan des verurteilten Mörders wirft Fragen auf. Konnte der Mann tatsächlich durch eine vorgetäuschte Fußverletzung eine Fußfesselung vermeiden? Und kam er innerhalb der JVA an ein Handy, mit dem er mutmaßliche Helfer über die Fluchtpläne informiert haben könnte? Laut Ermittlern gibt es Indizien, dass ihm jemand bei der Flucht geholfen hat.
Zur Frage nach der Fußverletzung und einem angeblichen Attest äußert sich die JVA Würzburg auf Anfrage der Redaktion nicht. Die Staatsanwaltschaft Regensburg, erklärt, es sei derzeit "nicht gesichert, ob die Fußverletzung simuliert war oder nicht. Der Geflohene selbst bestreitet dies". Er habe angegeben, sich etwa "eine Woche vor der Verhandlung beim Fußballspielen verletzt zu haben und von der Krankenstation der JVA eine Bandage und eine Creme für die entstandene Schwellung erhalten zu haben", sagt Rauscher. Dennoch soll er auf seiner späteren Flucht laut Zeugenaussagen "extrem schnell" gelaufen sein.
Wie das Handy in die Würzburger Zelle des Mörders gekommen ist, sei der Staatsanwaltschaft "nicht bekannt", so Rauscher. "Justizvollzugsanstalten sind keine hermetisch abgeschlossenen Einrichtungen", sondern würden "täglich von einer Vielzahl von Personen betreten", sagt dazu Oberregierungsrätin Michaela Bauer von der JVA Würzburg. "Jede Öffnung nach außen birgt die potentielle Gefahr, dass auch Mobiltelefone eingebracht werden können."

Konkret heißt das, es werde "versucht, Handys gut verpackt und teilweise getarnt als Grasbüschel oder Stein über die Mauer in das Anstaltsgelände zu werfen", erklärt Bauer. "Es gibt auch Möglichkeiten, Handys, vor allem sogenannte Mini-Handys, die in etwa die Größe eines USB-Sticks haben und auch in Körperöffnungen transportiert werden können, in Justizvollzugsanstalten einzuschmuggeln."
Justizministerium legte nach dem Fall den Fokus auf die Sicherheit von Gerichten
Man versuche "die entstehenden Gefahren permanent zu detektieren und durch geeignete Mittel zu minimieren, dies gelingt aber nicht immer in Gänze", räumt Michaela Bauer ein. Laut dem Briefschreiber gelingt das Einschmuggeln von Handys "ständig". Wie oft? Bauer bestätigt, dass "bei Kontrollen und Durchsuchungen Mobiltelefone aufgefunden" werden, wie oft das der Fall sei, darüber führe man aber keine Statistik.
Auch das Justizministerium in München erklärt, dass "trotz intensiver Kontrollen und umfangreichen Sicherungsmaßnahmen" ein "Einschmuggeln von Mobiltelefonen und Betäubungsmitteln in die Justizvollzugsanstalten nicht hundertprozentig verhindert werden" könne. Zuletzt hatte das Ministerium von Georg Eisenreich (CSU) den Fokus auf die Sicherheit von Gerichtsgebäuden im Freistaat gelegt: Alle 99 bayerischen Gerichte mussten dem Justizministerium über ihre Sicherheitsvorkehrungen berichten. Hintergrund waren die Flucht des Mörders in Regensburg und die Flucht eines mutmaßlichen Vergewaltigers in Coburg wenige Wochen später.

Nun gibt es zumindest Hinweise, dass die Flucht von Regensburg nicht im Gericht, sondern quasi schon in der JVA Würzburg begann. Sieht das Justizministerium hier also Handlungsbedarf? Es scheint nicht so. "Die Sicherheitskonzepte der Justizvollzugsanstalten werden fortwährend überprüft und bei Bedarf geändert", erklärt eine Sprecherin auf Anfrage. "Jede Entweichung wird zum Anlass genommen, zu prüfen, ob Verbesserungsbedarf besteht."
Die Anstalten, betont sie, "versuchen nach Kräften, durch eine Vielzahl an Kontrollen, Durchsuchungen und die Überwachung der Außenkontakte Fluchtplanungen oder gar Vorbereitungen möglichst frühzeitig zu entdecken. Eine lückenlose, durchgehende Überwachung aller Gefangenen ist jedoch weder möglich noch rechtlich zulässig".
Mithäftling hat Angst vor Rache des Mörders und fühlt sich im Stich gelassen
Unterdessen hat der frühere Mithäftling des Mörders andere Sorgen. Der 40-jährige Algerier habe ihm "Blutrache" geschworen, erzählt er. Er habe Angst um sich, vor allem aber um seine Familie, die er hinter Gittern nicht beschützen könne. Doch ein Antrag auf Aussetzung seiner Reststrafe zur Bewährung wurde genauso abgelehnt wie ein Gnadengesuch, das er an Ministerpräsident Markus Söder (CSU) gerichtet habe.
Der Briefschreiber fühlt sich von der Justiz und der Politik "im Stich gelassen". Dabei sei ihm in Polizeiverhören bestätigt worden, "dass ohne meine Mithilfe, die Ergreifung" des Flüchtigen "wohl erfolglos geblieben wäre". Außerdem habe man ihm versichert, "dass sich meine Aussagebereitschaft positiv auf meinen weiteren Haftverlauf auswirken wird". Die Staatsanwaltschaft Regensburg bestreitet das.
Geflohener Mörder ist zurück in Würzburg
Wie hat er von den angeblichen Rachegedanken des Mörders erfahren? Aus einem "Brief von einem befreundeten Mitgefangenen aus der JVA Würzburg", sagt der Briefschreiber. Ist der Mann, dem die Flucht aus dem Regensburger Gericht gelang, also wieder zurück in Würzburg?
Offiziell wollen die Behörden nicht sagen, wo der 40-Jährige nach seiner Auslieferung aus Frankreich inhaftiert wurde. Nun bestätigte das Amtsgericht Würzburg jedoch auf Anfrage Informationen der Redaktion, dass kürzlich "eine Anhörung der betreffenden Person vor dem Amtsgericht Würzburg" stattgefunden habe. Auf Ersuchen der Staatsanwaltschaft Augsburg, erklärte Gerichtssprecher Frank Glöckner. Aus Augsburg hieß es, Hintergrund sei ein Urteil des dortigen Amtsgerichts aus dem Jahr 2020 gegen den Mann. Dabei sei es um Sachbeschädigung gegangen. "Die Anhörung fand in Würzburg statt, da sich" der in Regensburg Geflüchtete, aktuell wieder "in der JVA Würzburg befindet".
Ein zu lebenslanger Haft verurteilter Mörder hat in Regensburg ein Verfahren wegen einer Tätlichkeit und wird mehrmals dahin transportiert.
Gleichzeitig ermittelt die Justiz in Augsburg wegen einer Sachbeschädigung.
Ich vermute jetzt mal, zu seinem lebenslänglich bekommt er in Regensburg noch 2 Jahre ohne Bewährung und von Augsburg 1 Jahr auf Bewährung.
Hat unsere Justiz sonst nichts anderes zu tun?
Kein Wunder, dass sich ganz banale Fälle über Jahre hinziehen
dass der entflohene Mörder jetzt wieder im selben Gefängnis untergebracht wurde,
in dem auch der Hinweisgeber noch einige Zeit einsetzen muß,
dann würde dies ein massiv negatives Bild der Bayerischen Justiz abgeben.
Der Staat hat hier auch eine gewisse Fürsorgepflicht den Häftlingen gegenüber, und die Kronzeugenregelung wird in absurder Weise zum Eigentor des Tippgebenden.
Im Artikel wird ja deutlich besagt,
dass eine komplette Überwachung der Gefangenen gar nicht möglich ist.
Hinsichtlich der Judasparagraph genannten Kronzeugenregelung bleiben aber die Zweifel, ob sich vertrauensvolle Zusammenarbeit mit gewissen Behörden tatsächlich rechnet.
Ist doch vielleicht auch gar nicht verkehrt, wenn die privaten Mobiltelefone der Bediensteten mal Pause haben.
Im übrigen sieht man, dass es heutzutage nicht einmal mehr "Ganoven-Ehre" gibt. Der Tipp-Geber nutzt das Telefon des Ausbrechers in spe und "verpfeift" ihn dann.
Wo soll er sie denn sonst geplant haben, wenn er vorher in Würzburg inhaftiert gewesen ist? Und spontan war das bestimmt nicht!
Aber in Bayern sind jetzt im Herbst wieder Wahlen. Möglicherweise führt das dazu, dass die CSU geführte bayr. Staatsregierung versucht alles, was wahlkampfschädlich sein könnte, unter den Tisch zu kehren. Deshalb lb Benjamin Stahl und lb MP bleiben sie am Ball.