
Assistierter Suizid ist in Deutschland seit einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vor genau fünf Jahren legal möglich. 2024 holten sich mehr als 1000 Menschen Hilfe bei der Selbsttötung. Das geht aus Zahlen von Sterbehilfeorganisationen hervor. Die meisten Freitodbegleitungen vermittelte die Deutsche Gesellschaft für Humanes Sterben (DGHS) in Berlin: Unter den 623 Fällen mit einem Durchschnittsalter von 79 Jahren waren auch sieben in Unterfranken.
Eine Ärztin, die auf Vermittlung der DGHS auch Menschen in der Region beim Suizid assistiert, ist Marion von Helmolt: 58 Jahre alt, Fachärztin für Anästhesie und Intensivmedizin, aktuell als Gutachterin tätig. Sie engagiert sich zudem, das Thema in die Gesellschaft zu tragen.
Beim Interview in ihrem Zuhause in Nürnberg spricht sie darüber, warum sie Menschen beim Freitod begleitet, welche Erfahrungen sie damit macht und was sie dabei fühlt.
Marion von Helmolt: Das war ein eindrücklicher Fall. Am Ostermontag 2023 bin ich in den Süden von Bayern gefahren, zu einer Frau Mitte 60, mit Brustkrebs und einer speziellen Form von Hautmetastasen. Im Bereich des Brustkorbs, später auch am Rücken, wuchsen ihr faustgroße, blumenkohlartige, nässende Metastasen. Die fleischigen Wunden mussten jeden Tag aufwendig von ihrem Mann verbunden werden. Die Patientin war lange schon in Behandlung, hatte verschiedenste Therapien hinter sich. Keine schlug an. Ihr behandelnder Onkologe wollte nicht aufgeben, sie nicht loslassen, immer wieder noch etwas testen. Ohne Rücksicht auf die Bedürfnisse dieser Frau, die sagte: Ich kann nicht mehr.
von Helmolt: Ja, aber doch bitte nicht in einer Endlosschleife! Ein Heilauftrag endet, wenn es keine Heilung mehr gibt oder der Patient die Behandlung ablehnt. Wenn es medizinisch nicht mehr weitergeht, ist Menschlichkeit gefragt. Die begrenzte Zeit, die Schwerstkranken noch bleibt, soll nicht durch frustrane Therapieversuche belastet und verdorben werden.
von Helmolt: Um Gottes Willen, nein! Niemand darf dazu gezwungen werden! Natürlich ist Freitodbegleitung keine primäre ärztliche Aufgabe, aber es kann eine solche sein. Mediziner sind nun mal in der Lage, gesundheitliche Zusammenhänge zu bewerten, Sterbewillige zu beraten und die notwendigen Medikamente zu beschaffen. Ihr Heilauftrag schließt nicht aus, beim würdevollen Sterben zu helfen.
von Helmolt: Selbstbestimmt, schmerzfrei, gewaltfrei und nicht alleine zu sterben. Menschen, die dabei Hilfe in Anspruch nehmen, wollen weder einsam Gewalt gegen sich anwenden noch andere mit ihrem Suizid ungefragt traumatisieren.
von Helmolt: Weil es sich für mich als Ärztin und Mensch richtig und wichtig anfühlt. Natürlich habe ich kein Interesse am Tod anderer. Aber ich habe Interesse daran, Menschen zu helfen, so zu sterben, wie sie es sich wünschen. Im Übrigen kann ich mit meiner Arbeit auch Lebenszeit schenken.
von Helmolt: In dem Moment, ab dem Menschen einen Plan B haben und wissen, dass sie Sterbehilfe erhalten können, verlieren sie Angst. Diese Sicherheit setzt viele mentale und körperliche Ressourcen frei und kann sich begünstigend, sogar verlängernd auf ihr Leben auswirken. Das erlebe ich immer wieder, insbesondere bei Tumorpatienten.

von Helmolt: Es gibt zwei große Gruppen: Zum einen Menschen, die unheilbar oder so schwer krank sind, dass sie keine Kraft mehr oder Angst vor dem Leidensweg haben. Zum anderen Menschen, die nach einem langen, erfüllten Leben satt sind. Sie haben sich mit ihrem Lebensende auseinandergesetzt. Sie kennen die Alternativen zum Suizid, die auch ich ihnen im Gespräch noch mal aufzeige. Und sie haben abgewogen, dass diese für sie nicht infrage kommen - zum Beispiel, weil sie nicht palliativ sediert dahinsiechen oder in ein Altenheim wollen.
von Helmolt: Ich arbeite mit einem Juristen zusammen. Wir führen unabhängig voneinander Vorgespräche mit den Sterbewilligen - manchmal sind es auch Paare. Am Sterbetag gehen wir gemeinsam zur Begleitung. Der Jurist erledigt dann die letzten administrativen Dinge, ich bereite das Medikament vor; die Dosis ist todsicher. Dann geht es individuell zu. Manche haben noch Redebedarf, hören Musik, zünden Kerzen an, beten. Die allermeisten sterben nicht im Bett, sondern sitzen an ihrem Lieblingsplatz. Ich lege dann einen Venenzugang und schließe Kochsalzlösung als Testinfusion an. Während die reintropft, frage ich den Sterbewunsch final ab: "Sind Sie sicher… Ist das ihr freier Wille…?" Bis zu dem Moment haben die Sterbewilligen die Möglichkeit, den Prozess zu stoppen. Wenn sie bejahen und bereit sind, tausche ich die Kochsalz- gegen die Medikamentenlösung. Das Zuleitung müssen sie selbst öffnen.
von Helmolt: Dann sind auch Hilfsmittel erlaubt, für die ich schon mal in den Baumarkt fahre. Wenn es solche Vorrichtungen braucht, dann filmen wir die Sequenz, um nachweisen zu können, dass niemand geholfen hat. Meine jüngste Patientin war so ein Fall.
von Helmolt: Die Frau war 24, hatte Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue Syndrom und einen unglaublichen Leidensweg. Sie lag ein Jahr lang im Bett in einem komplett abgedunkelten Zimmer, teils mit Ohrenschützern, weil sie Licht und Geräusche nicht ertragen konnte. Sie musste über eine Sonde ernährt werden und konnte sich kaum mehr bewegen. Am Ende kommunizierte sie nur noch über ein Plastiktütchen, weil ihr die Kraft zum Sprechen fehlte. Ihre Mutter buchstabierte langsam das Alphabet, und am gemeinten Buchstaben raschelte die Tochter mit der Tüte zwischen den Fingern. Damit sie die Infusion selbst starten konnte, habe ich eine Konstruktion mit einem langen Hebel gebastelt. Wissen Sie, was sie als Letztes "geraschelt" hat? "Unheimlich dankbar"! Und das sind die Menschen: unheimlich dankbar, dass ihnen jemand hilft, friedlich zu sterben, um Erlösung zu finden.
von Helmolt: Nach ziemlich genau einer Minute schlafen die Sterbewilligen wie bei einer Narkose ein. In dieser letzten wachen Minute passiert oft noch Schönes. Manche sagen ihren Angehörigen, wie sehr sie sie lieben, wünschen ihnen ein schönes Leben, schauen glücklich in ihren Garten, lauschen einem Lied oder machen noch Scherze. Bei einem alten Ehepaar hat der 92-jährige Mann seiner Frau an die Brust gefasst und gewitzelt: "Geile Titten!" Sie sind lächelnd zusammen gestorben.
von Helmolt: Eine weitere Minute nach dem Einschlafen hört die Atmung auf, nach rund fünf Minuten bleibt das Herz stehen. Damit stelle ich den Tod fest.
von Helmolt: Deswegen ruft der Jurist dann die Kriminalpolizei an. Der Leichnam kann erst nach staatsanwaltlicher Prüfung für den Bestatter freigegeben werden.
von Helmolt: Ich bekomme für meine Arbeit 1400 Euro pro Begleitung. Das macht einen durchschnittlichen Stundensatz von 20 bis 25 Euro netto.
von Helmolt: In der Regel sehr gut. Natürlich ist es emotional, da ich zu den Verstorbenen und Trauernden eine Beziehung aufgebaut habe. Aber bisher hatte ich immer das Gefühl, dass meine Arbeit wertvoll und stimmig war. Mich belastet es nicht, dass ich Sterbehilfe leiste. Ich schaffe bestmögliche Rahmenbedingungen, damit Menschen wunschgemäß selbstbestimmt und würdevoll sterben können. Darauf bin ich stolz. Und dafür bekomme ich auch viel Dankbarkeit und Wertschätzung.
von Helmolt: Nein, bisher nicht. Suizidprävention ist ganz wichtig, aber nicht alles. Durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 26.2.2020 ist das Recht auf selbstbestimmtes Sterben verbrieft.
von Helmolt: Die gibt es für mich nicht: Die Sorgfaltskriterien beim assistierten Suizid hat das Bundesverfassungsgericht klar benannt: Freiverantwortlichkeit, Urteils- und Entscheidungsfähigkeit des Sterbewilligen, Dauerhaftigkeit und Wohlerwogenheit des Sterbewunschs. Manchmal ist ein psychiatrisches Gutachten notwendig. Wenn sich für mich ein Fall nicht rundum stimmig anfühlt, kann ich das nicht verantworten und lehne eine Assistenz ab. Als Ärztin treffe ich die finale Entscheidung, da ich allein die etwaigen rechtlichen Konsequenzen trage. Es ist richtig, das Geschäft mit der Sterbehilfe kritisch zu hinterfragen. Aber ein Gesetz könnte die individuellen Konstellationen niemals in der Vielfalt abbilden.
von Helmolt: In der Schweiz, wo es Sterbehilfe seit 40 Jahren gibt, ist das nicht passiert. In Deutschland machen assistierte Suizide ein Prozent aller Todesfälle aus. Es steht der Gesellschaft nicht zu, zu bewerten, wie ein Mensch sterben will, solange er kognitiv in der Lage ist, seinen Sterbewunsch zu reflektieren und dieser beständig ist. Ich wünsche mir eine sachlich richtige Debatte über Sterbehilfe und möchte meine Mitmenschen einladen, sich mit ihrer Vergänglichkeit authentisch auseinandersetzen. Und zwar nicht in einer dunkeln Ecke, sondern mitten im Leben. Sich dem Thema zu öffnen, macht frei.