Kein Tag ohne Kartoffeln! Brennnesseln waren plötzlich kein Unkraut mehr, auch Löwenzahn und Sauerampfer galten jetzt als Gemüse. Und wieso nicht im Binnenland Muscheln essen, als guter Eiweißlieferant? Wenigstens mit Worten ließen sich karge Gerichte ja anreichern und aufhübschen: „Diese Nudeln schmecken und sind für eine kinderreiche Familie mit Sauerkraut angerichtet sättigend und billig.“
So schrieb es Marie Buchmeier im „Kriegskochbüchlein“ vor gut 100 Jahren. Viele Jahrzehnte war sie im Niederbayerischen Herrschaftsköchin gewesen und hatte 1883 das „Praktische Koch-Buch“ geschrieben. Es wurde ein Klassiker der bürgerlichen Küche, ein Bestseller, mehrfach neu aufgelegt. Und dann, vermutlich 1915, schrieb die 82-jährige Marie Buchmeier noch einmal drei Küchenwerke: ein Standardkriegskochbuch, eins zum Thema Einkochen und eins mit Weihnachts- und Teegebäck.
Kochbücher für den Krieg?
„Kriegskochbüchlein!“ – Regina Frisch sitzt in ihrer Küche in Theilheim bei Würzburg und tippt sich an die Stirn. „Das fand ich absurd und kurios.“
Vor acht Jahren hatte die promovierte Sprachwissenschaftlerin begonnen, die Entstehungs- und Kulturgeschichte des „Bayerischen Kochbuchs“ zu erforschen, jener „Autorität“ der Küchenliteratur, die über Generationen in keinem bayerischen Haushalt fehlen durfte. Schon vor dem Ersten Weltkrieg war das Buch, das „das“ Standardwerk wurde, zum ersten Mal als schmaler Band erschienen, herausgegeben vom „Bayerischen Verein für wirtschaftliche Frauenschulen auf dem Lande“. Regina Frisch wollte mehr wissen – und stieß auf das kleine, dünne Kriegskochbüchlein, das der Verein während des Ersten Weltkriegs herausgegeben hatte.
Keine Zeit für Torte und Kuchen
109 Rezepte in den Kapiteln Suppe, Satteßsuppen, Kartoffel-, Milch- und einige einfache Mehlspeisen, Fleischspeisen, Gemüse und Salate, Soßen . . . „Gebäck findet man nicht im Kriegskochbuch“, sagt Frisch. „Es war nicht die Zeit für Kuchen.“ Trotz der Mahnung im Vorwort, das Stiefkind der bayerischen Küche, das Gemüse, habe jetzt in schwerer Zeit andere Nahrungsmittel zu ersetzen, wurde das Gemüse-Kapitel das schmalste. Dafür empfahl das Büchlein für altbayerische Küchenverhältnisse auffällig viele Kartoffelrezepte: Kartoffelnudeln, Kartoffelschmarren, Kartoffelbrei-Nocken. . . „Bei den geringen Mehlvorräten ist es vielerorts nicht mehr möglich, die so gesunden, schmackhaften Mehlspeisen herzustellen, an ihre Stelle müssen Kartoffelspeisen treten“, schrieben die Autorinnen.
Im Vorwort und zwischen allen Zeilen: Appelle und Propaganda!
Für Propaganda hatte im Vorwort Emmy von Meinel, Ehefrau des Ritterordenträgers Wilhelm von Meinel, gesorgt. „Sie vergleicht die Hausfrau mit dem Soldaten“, sagt Frisch und zitiert: „Unsere Feinde trachten danach, wirtschaftliche Not, Lebensmittelmangel heraufzubeschwören. Dagegen müssen wir uns wehren mit allen Kräften, wie unsere Soldaten den feindlichen Angriffen gegenüber in der Feldschlacht und in den Schützengräben.“
70 Kriegskochbücher aus ganz Deutschland
Als die Theilheimer Germanistin das große Standardwerk erforscht und vor zwei Jahren abschließend in ihrer „Biografie eines Kochbuchs“ eine Art Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts erzählt hatte – da köchelte die Neugier und das Interesse an jenen schmucklosen, vielsagenden Rezeptsammlungen aus dem Ersten Weltkrieg weiter. Regina Frisch begann Antiquariate und Bibliotheken zu durchforsten. Irgendwann hatte sie tatsächlich 70 Kriegskochbücher, alle aus den Jahren 1914 bis 1918, gefunden.
Das „Kriegskochbuch des Vaterländischen Frauenvereins Provinzialverein Berlin“, „Des Vaterlandes Kochtopf – Allerlei Rezepte für Küche und Herz in kriegerischen Tagen“, die „Rheinische Küche in der Kriegszeit“ von einer Hauswirtschaftslehrerin aus Gladbach, das „Oberschwäbische Kriegskochbuch“ aus Riedlingen, dessen „Erlös für hiesige Lazarette bestimmt“ war. Oder aus Dachau das Kochbuch „So kocht man gut und billig für 3 Personen um eine Mark“, aus Eisenach „Der deutschen Hausfrauen Tischlein deck' dich!“ mit dem Untertitel „Kriegskochbuch über selbsterfundene neue Gemüse, Mahlzeiten und ausprobierte Rezepte ohne Mehl“. Darin wurde mit Rosenkohlmark gekocht, das man „von dem Strunk gewinnt, der bisher achtlos auf den Komposthaufen gewandert ist“.
Opulente bürgerliche Tafel? Passé. Jetzt musste improvisiert und gespart werden.
Keine deutsche Region, in der kein Kriegskochbuch erschienen war. Und die Texte darin, das bemerkte Frisch schnell, unterschieden sich deutlich von denen der Kochbücher aus dem Zweiten Weltkrieg. „Die Landwirtschaft, die ganze Logistik war zusammengebrochen. Im Kaiserreich war der Speisezettel sehr fleischbetont, das ging plötzlich nicht mehr.“ Die Hausfrauen brauchten dringend Rat, wie sie ihre hungrigen Familien irgendwie ernähren konnten. So wurden die Kochbücher pragmatisch: „Wie Kartoffeln geschnitten werden, interessiert nicht mehr.“ Es ging um Sattess-Suppen statt um das Anrichten der Tafel. Und,, sagt Frisch: „Natürlich ist Sparsamkeit oberstes Gebot.“ Plötzlich gibt es Maßangaben, dafür kaum Abfall mehr. Rhabarberblätter taugten noch gut als Spinat. Der Tenor der Kochbücher, so dünn oder dick sie auch waren: „Der Krieg darf nicht an der deutschen Hausfrau scheitern, die nicht redlich genug spart.“
Im Zweiten Weltkrieg, erklärt Frisch, „da war man vorbereitet und gab sich keine Blöße“. Im Ersten Weltkrieg habe man in vielen siegessicheren (bürgerlichen) Haushalten nach der anfänglichen Kriegsbegeisterung angesichts von Hunger und Not erst einmal lernen müssen: Wie haushalten mit dem Wenigen, das noch aufzutreiben war?
Porträts der Kochbücher auf resteferwertung.de
Regina Frisch stieß bei ihrer Recherche auf immer mehr Kriegskochbücher, die Sammlung wuchs. Und irgendwann begann sie, auf ihrer Internetseite resteferwertung.de [sic] in Kurzporträts ausgewählte Rezeptsammlungen als „Alltagskulturzeugen“ vorzustellen – und von kuriosen Tipps, regionalen Besonderheiten und reichlich Kriegspropaganda zu erzählen. So liest man: Hindenburg-Kuchen ist ausgezeichnet zum Verschicken ins Feld!
In Würzburg fand die Philologin einen besonderen Ratgeber: die „Kriegs-Kochkurse“ von Amelie Sprenger, vertrieben von der Haushaltswarenfirma J. B. Deppisch, dem ersten Haus am Platze. „Die unumstößliche Tatsache, dass die Hausfrauen aller Kreise, ganz besonders aber der Begüterten, in ihrer Küche umlernen müssen, ist das Thema, das Amelie Sprenger umtreibt“, sagt Frisch.
Not machte erfinderisch. Wie die Würzburger Köchin den Unterfranken „Säuerliche Dämpfmuscheln“ schmackhaft machte und es bei ihr kein Schweinefleisch mit Kraut mehr gab, sondern Kraut mit Schweinefleisch, ist jetzt nachzulesen in Frischs neuem Buch. Sie hat Sprengers Buch und zwei weitere als Faksimile wieder lebendig werden lassen.
Rezepte:
- Sauerkrautsuppe
- Säuerliche Dampfmuscheln
- Kartoffelnudeln mit Äpfeln und Topfen
- Katzengeschrei
- Haferflockenplätzchen
Buchtipp:
„Kochen im Ersten Weltkrieg.
Drei Kriegskochbücher aus Bayern“, hrsg. von Regina Frisch, Verlag Königshausen & Neumann Würzburg 2018, 418 Seiten, 28 Euro. Am Montag, 19. November, findet um 19 Uhr im Würzburger Wirsberg-Gymnasium ein Abend zum Ende des Ersten Weltkriegs statt – mit Kostproben aus den Kriegskochbüchern.