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Würzburg
Holocaust-Überlebende Rita Prigmore: Ihr Familienschicksal wurde mitten in Würzburg besiegelt statt fernab im KZ
Die Sintiza Rita Prigmore überlebte den Holocaust. Doch auch nach dem Ende der Nazi-Herrschaft ging die gesellschaftliche Ausgrenzung weiter.
Es fällt nicht leicht, über traumatische Erinnerungen zu sprechen, doch sie zu teilen schützt andere davor, ähnliche Fehler zu begehen. Deshalb spricht Rita Prigmore offen über ihre Familiengeschichte und das Schicksal, welches mitten in Würzburg seinen Lauf nahm.
Foto: Georg Wagenbrenner | Es fällt nicht leicht, über traumatische Erinnerungen zu sprechen, doch sie zu teilen schützt andere davor, ähnliche Fehler zu begehen.
Gina Thiel
 |  aktualisiert: 15.07.2024 12:10 Uhr

Mit zitternder Stimme und Tränen in den Augen sitzt Rita Prigmore am vergangenen Mittwoch im Würzburger Rathaussaal. Ihre Emotionen kann sie kaum zurückhalten, als ihre Stimme das erste Mal über die großen Lautsprecher im Saal hallt. "Ich danke euch allen von Herzen, dass ihr heute hier seid und dass heute eine Straße nach meiner Mama benannt wird", beginnt sie.

Die Falten um ihre Augen vertiefen sich, als sich auf ihrem Gesicht ein herzliches Lächeln ausbreitet. "Danke, dass eine kleine Sintiza nicht vergessen wird." Vor ihr im Ratssaal sitzen 140 Schülerinnen und Schülern aus Würzburger Schulen, die gekommen sind, um ihren Bericht zu hören.

Sintiza – so bezeichnen sich die Frauen des Sinti-Volkes, dessen Angehörige genauso wie Millionen von Juden der massenhaften Ermordung in Konzentrationslagern wie Auschwitz und Buchenwald zum Opfer fielen. Aber nicht nur dort: Mehrere hunderttausend Sinti und Roma fanden auch fernab der Vernichtungslager mitten in der Gesellschaft ihren Tod. Und so beginnt die Geschichte von Rita Prigmore, ihrer kleinen Zwillingsschwester Rolanda und ihrer Mutter Theresia Winterstein, zu deren Ehren jetzt die ehemalige "Hermann-Zilcher-Straße" in "Theresia-Winterstein-Straße" umbenannt wurde. 

Eine Schwangerschaft besiegelt das Schicksal

Das Schicksal von Theresia Winterstein hat der Würzburger Historiker und langjährige Main-Post-Redakteur Roland Flade ausführlich erforscht und in seinem 2008 erschienenen Buch "Dieselben Augen, dieselbe Seele. Theresia Winterstein und die Verfolgung einer Würzburger Sinti-Familie im Dritten Reich" beschrieben. 1921 wurde Theresia Winterstein als Sintiza geboren und erlangte in jungen Erwachsenenjahren große Beliebtheit durch ihre regelmäßigen Auftritte als Sängerin und Tänzerin am Würzburger Stadttheater. Doch die ohnehin nicht einfache Stellung der Sinti und Roma in Deutschland hatte sich bereits ab 1933 mit der Machtübernahme der NSDAP in Deutschland drastisch verschlechtert, 1940 wurde Winterstein ein Berufsverbot erteilt.

Und es kam noch schlimmer: 1941 sollte die damals 20-Jährige sich der Zwangssterilisation unterziehen. Ein Schicksal, das zu dieser Zeit sowohl männliche als auch weibliche Sinti und Roma erleiden mussten und das bereits im Juli 1933 in dem "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" angestoßen wurde. Doch bei der Voruntersuchung stellte sich heraus, dass Theresia Winterstein bereits im dritten Monat schwanger war – sie erwartete Zwillinge. Ihr wurde erlaubt, ihre Kinder auszutragen, doch nur, weil Zwillinge im Dritten Reich begehrte Versuchsobjekte waren – für die pseudowissenschaftlichen Experimente des SS-Lagerarztes von Auschwitz, Josef Mengele, und des Direktors des Würzburger Universitätsnervenklinikums Werner Heyde.

Der Versuch einer Rettung vor den pseudowissenschaftlichen Zwillingsexperimenten

Und so kam es, dass Theresia Winterstein am 3. März 1943 ihre beiden Töchter Rita und Rolanda im Uniklinikum Würzburg zur Welt brachte. Aus Angst, ihre Familie könnte während ihres Krankenhausaufenthaltes nach Auschwitz deportiert werden und sie müsse allein mit den beiden Neugeborenen zurückbleiben, floh sie wenige Tage nach der Geburt mit ihren Kindern aus dem Krankenhaus. Die Gestapo spürte sie auf und nahm ihr die Zwillinge weg.

Rita Prigmore ist stolz: Seit kurzem trägt die ehemalige Hermann-Zilcher-Straße in Würzburg den Namen ihrer Mutter Theresia Winterstein und erinnert damit an alle durch während des NS-Regimes verfolgten und ermordeten Sinti und Roma.
Foto: Thomas Obermeier | Rita Prigmore ist stolz: Seit kurzem trägt die ehemalige Hermann-Zilcher-Straße in Würzburg den Namen ihrer Mutter Theresia Winterstein und erinnert damit an alle durch während des NS-Regimes verfolgten und ...

Weil sie die wochenlange Trennung von ihren Kindern nicht weiter aushalten konnte, nahm sie all ihren Mut zusammen und versuchte, ihre Zwillinge aus dem Krankenhaus zu retten. Unter Tränen konnte sie letztendlich eine Krankenschwester überreden, ihr die beiden Kinder zu zeigen. Ein Anblick, den Theresia Winterstein bis ins hohe Alter nicht mehr vergessen konnte: Ihre kleine Tochter Rolanda lag mit einem dicken Verband um den Kopf in einem kleinen Bett und atmete nicht mehr.

"Auch heute fällt es mir schwer, durch die Stadt zu gehen und Geschwister zu sehen, dann vermisse ich meine Schwester sehr", erzählt Rita Prigmore. Die Zwillingsexperimente und der Versuch, den beiden Mädchen die Augenfarbe zu ändern, hatten ihrer Schwester Rolanda das Leben gekostet. Rita selbst leidet bis heute unter den Folgeschäden der pseudowissenschaftlichen Prozeduren – genauso wie unter dem Verlust ihrer Schwester.

Das Gefühl vom "ausgeschlossen sein" hält an

Immer wieder betont Prigmore, wie gern sie eine Schwester gehabt hätte. Doch weil die Nazis ihre Mutter gleich nach der Geburt zwangssterilisierten, blieb ihr Traum von einem Geschwisterchen für immer unerfüllt. Und dennoch ist Prigmore dankbar – dafür, die schrecklichen Gräueltaten überlebt zu haben, und dafür, dass ihre Geschichte auf offene Ohren trifft. "Danke, dass ihr alle hierhergekommen seid, um die Geschichte eines kleinen Sinti-Mädchens zu hören", unterbricht sie immer wieder ihre Erzählungen. "Danke, dass ich zu euch dazugehöre."

Denn das Gefühl, nicht dazuzugehören und "anders" zu sein, hat Prigmore ihre gesamte Jugend über begleitet. Nach dem Sturz der NS-Diktatur zog die Familie in die Zellerau, Prigmore ging zur Schule und auch dort fühlte sie sich nie ganz zugehörig. Denn Sinti und Roma waren auch in den Jahren nach dem Krieg weiter mit Vorurteilen behaftet, "und meine Gesundheit litt schwer unter den Folgen der Nazi-Experimente", erklärt Prigmore. Immer wieder hatte sie mit Ohnmachtsanfällen zu kämpfen, die so starke Auswirkungen hatten, dass sie in der vierten Klasse vom Unterricht freigestellt wurde.

Einen Schritt aufeinander zugehen, um Rassismus zu überwinden

Heute ist es ihr deshalb umso wichtiger, jungen Menschen ihre Botschaft vom Zusammenhalt weiterzugeben. "Wir dürfen Hass und Rassismus nicht zwischen uns kommen lassen und Menschen weh tun, weil sie anders sind", sagt sie an die Schülerinnen und Schüler gewandt. Sie hofft, dass sich die Geschichte trotz immer neuer Nachrichten über rechte Bewegungen und den Einzug der AfD in den Deutschen Bundestag nicht wiederholt.

"Ich habe das Gefühl, dass sich viele Menschen in Deutschland sehr darum bemühen, dass so etwas nie wieder passiert", sagt Prigmore und spricht der Demokratie ihr Vertrauen aus. Dennoch möchte sie auch warnen: "Der Rassismus wächst wieder und er war nie ganz verschwunden." Und nur gegenseitiges Vertrauen helfe dabei, einen Schritt aufeinander zuzugehen. Und das sei wichtig, um das vermeintlich unbekannte Gegenüber kennenzulernen und Ängste abzubauen.

"Vielleicht sollten wir alle mal eine große internationale Party feiern, damit wir uns alle besser kennenlernen", überlegt Prigmore laut und als ihr Blick dabei ins Publikum wandert, sieht sie viele junge lächelnde Gesichter ihr entgegenblicken.

 
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Kommentare
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  • A. D.
    Sehr interessante Geschichte.
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    • Antworten
  • L. W.
    Solche Berichte

    von Zeitzeugen müssen archiviert werden, damit sie der Nachwelt erhalten bleiben.

    Diese Partei mit dem geschichtsvergessenen Geschichtslehrer würde nämlich diese Zeit gerne als "Fliegenschiss" der Geschichte bagatellisieren.
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