Angehörige der 18-jährigen Tänzerin, die selbst bis 1939 in Lohr gelebt hatte, waren seit langem in Würzburg ansässig. Viele leisteten ihren Beitrag zum Krieg. Theresias Onkel Karl arbeitete auf dem Flugplatz am Galgenberg, ihr Onkel Franz wurde in diesem Winter 1939/40 in Würzburg gemustert, als kriegsverwendungsfähig eingestuft und nach Eger abkommandiert. Ihrem 19-jährigen Bruder Kurt schien sich später sogar eine Karriere in der Wehrmacht zu eröffnen.
Beim Tanzen schaute Theresia Winterstein verstohlen zur Kapelle hinter. Die leitetet jener Mann, in den sie verliebt war, der acht Jahre ältere Musiker und Geigenbauer Gabriel Reinhardt, ein weitläufiger Verwandter von Django und Schnuckenack Reinhardt.
Theresia träumte von einer Karriere als Tänzerin und Sängerin, und jeder, der sie auf der Bühne sah, bestätigte ihr, dass sie das nötige Talent besaß, vom Aussehen ganz zu schweigen. Ihr großes Vorbild war die neun Jahre ältere Martha Eggerth, einer der beliebtesten Stars des deutschen Tonfilms. In den nächsten Monaten schien Theresia ihrem Traum ein Stück näher zu kommen. Am 25. Februar 1940 hatte George Bizets Oper „Carmen“ im Würzburger Stadttheater Premiere, und die 18-Jährige war dabei, verstärkte mit anderen Frauen – wenn auch ohne festen Vertrag – das neunköpfige Ballett.
Dies ausgerechnet zu einer Zeit, als die Verfolgung der Sinti in Deutschland längst begonnen hatte. Doch Ausnahmen wurden nach wie vor gemacht. Ohnehin waren Opern und Operetten, in denen Sinti als Haupt- oder Titelfiguren auftauchten, weiterhin äußerst beliebt. So hatte das Stadttheater von 1937 bis 1939 insgesamt 19-mal mit großem Erfolg den „Zigeunerbaron“ von Johann Strauß gegeben, gefolgt von 13 Aufführungen von Franz Lehárs „Zigeunerliebe“.
Während „Zigeunerliebe“ noch lief, hatte nun also „Carmen“ Premiere. In der bis heute äußerst erfolgreichen Oper um Zigarettenarbeiterinnen und Schmuggler, Stierkämpfer und Gassenjungen spielt die ungebändigte „Zigeunerin“ Carmen mit der Liebe mehrere Männer und erleidet zum Schluss durch einen von ihnen den Tod. Ein solcher Frauentyp war vorher noch nie Opernfigur gewesen: eine emanzipierte Frau, in der Liebe alle erotische Freiheit für sich beanspruchend, die man sonst nur dem Mann zuerkennt, offen bis zur Grausamkeit, stolz und von unbeugsamem Unabhängigkeitsdrang.
„Ich flog beim Theater raus, weil ich nicht 'arisch' war“
Theresia Winterstein
„Carmen“ bedeutete vom Februar bis April 1940 den Höhepunkt der kurzen Karriere von Theresia Winterstein. Sie war wohl unter den Zigarettenarbeiterinnen, den „Zigeunerinnen“ und Verkäuferinnen, welche die Massenszenen bevölkern. Die NSDAP-eigene „Mainfränkische Zeitung“ lobte in ihrem Premierenbericht gerade auch die Tanz-Darbietungen. „Das Ballett erfüllte die ihm übertragenen Aufgaben mit Leidenschaft“, schrieb der Rezensent, wahrscheinlich ohne zu wissen, dass eine wirkliche Sintezza mittanzte.
Vor allem lobte der Kritiker, wie die Carmen-Darstellerin deren „Leidenschaft des Stolzes, des Machtgefühls, der kühnen Selbstbestimmung“ porträtierte. Dies war an Zynismus kaum zu überbieten. Denn: Während in diesem Frühjahr 1940 das Würzburger Publikum noch einer stolzen „Zigeunerin“ auf der Bühne zujubelte, wurde in Berlin bereits die Deportation tausender Sinti und Roma ins besetzte Polen vorbereitet.
„Ich flog beim Theater raus, weil ich nicht 'arisch' war“, berichtete Theresia Winterstein später. Zunächst durfte sie allerdings – wahrscheinlich im CC – noch einige Zeit in geschlossenen Veranstaltungen der Organisation „Kraft durch Freude“ vor Soldaten weitertanzen; diese sollen sich für die junge Frau eingesetzt haben. Nachdem er seine Kapelle hatte auflösen müssen, schlug sich Gabriel Reinhardt mit Soloauftritten als „exzentrischer Geigenkünstler“ Pitto durch, bevor auch dies untersagt wurde.
Wie die Juden galten Sinti und Roma im Dritten Reich als „minderwertige Rasse“, die es aus dem deutschen Volksleben so weit als möglich auszuschalten galt. Angehörige des ursprünglich aus Indien stammenden Volkes lebten seit dem späten Mittelalter in Deutschland (siehe „Chronologie“); 1933 wurden 26 000 Sinti und Roma im Reich gezählt. Viele waren – wie Karl Winterstein und seine Familie – sesshaft geworden, andere – wie Theresia Wintersteins Eltern – zogen weiterhin mit ihren Wagen in der warmen Jahreszeit von Ort zu Ort.
Am 8. Dezember 1938 sprach Heinrich Himmler erstmals von der Notwendigkeit, die „Zigeunerfrage aus dem Wesen dieser Rasse heraus in Angriff zu nehmen“. Die „Reichszentrale zur Bekämpfung des Zigeunerunwesens“ in Berlin sollte Daten über alle Sinti sammeln. Die Eroberung Polens im September 1939 ermutigte Reinhard Heydrich, Chef des Reichssicherheitshauptamtes, die Verschleppung nicht nur von Juden, sondern auch von Sinti und Roma in den Osten vorzubereiten.
Zunächst nahm Heydrich am 17. Oktober 1939 den Sinti durch den so genannten „Festsetzungserlass“ jegliche Bewegungsfreiheit. Zwischen dem 25. und 27. Oktober mussten alle erwachsenen Sinti eine Erklärung unterschreiben, in der sie sich verpflichteten, ihren Wohn- oder Aufenthaltsort nicht zu verlassen. Allen, die sich nicht daran hielten, drohte die Einweisung in ein KZ. Die Verschleppung von 2500 Sinti und Roma ins besetzte Polen im Mai 1940 blieb allerdings zunächst eine Einzelaktion.
Für die „Festsetzung“ der Familie Winterstein war bereits der Ende 1939 bestellte „Zigeuner-Referent“ Christian Blüm zuständig. „Es wurde ihnen ausdrücklich eröffnet, dass sie bei Verlassen des Ortes mit polizeilichen Maßnahmen zu rechnen haben“, sagte er nach dem Krieg in seinem Entnazifizierungsverfahren. Theresia Winterstein bezog mit ihren Eltern und dem fünf Jahre jüngeren Bruder Otto eine kleine Wohnung in der Mergentheimer Straße. Ihr Vater, der zuvor als Schausteller und Kaufmann auf Messen und Märkten unterwegs gewesen war, arbeitete nacheinander als Hilfsarbeiter, Kraftfahrer und Hausdiener, nebenbei auch als Korbmacher.
Auch Theresia Winterstein und ihr Geliebter Gabriel Reinhard durften bald ihre Berufe nicht mehr ausüben. Er wurde unter anderem zur Arbeit in einer Bäckerei zwangsverpflichtet, während sie kurzzeitig Näherin, Bonbonarbeiterin und Packerin war. Im Oktober 1941 trat sie eine Stelle als Platzanweiserin in den Odeon-Lichtspielen in der Augustinerstraße an.
Im „O-Li“ konnte sie kostenlos jene leichtfüßigen Unterhaltungsfilme mit den jungen Sängerinnen und Tänzerinnen sehen, die sie so glühend beneidete, wenn sie natürlich auch wusste, dass die Produkte aus der Traumfabrik des Joseph Goebbels nichts mit der Wirklichkeit zu tun hatten, schon gar nicht mit ihrer eigenen.
In einem weiteren Artikel geht es demnächst um den Tod von Theresia Wintersteins sechs Wochen alter Tochter Rolanda im Jahr 1943, wahrscheinlich als Folge von medizinischen Experimenten, und um die darauf folgende Zwangssterilisation der jungen Mutter.