Als sie am 24. April 1942 den großen Saal des Platzschen Gartens in Würzburg betrat, wurde Klara Sichel geblendet: Große Scheinwerfer waren auf den Emporen des Raumes aufgebaut. Die 65-Jährige hatte diesen beliebten Treffpunkt der Würzburger Gesellschaft sicher noch nie von innen gesehen, geschweige denn während einer Filmaufnahme. Die Kameras sollten einen entwürdigenden Vorgang dokumentieren: Die Durchsuchung von Hunderten unterfränkischen Jüdinnen und Juden vor der Deportation.
Wohin es gehen würde und was auf sie wartete, ahnte keiner der Menschen, deren Körper und Koffer kontrolliert wurden.
Ab 1939 Jüdinnen und Juden in "Judenhäusern" in Würzburg konzentriert
Klara Sichel stammte aus Kleinsteinach in den Haßbergen, heute mit vier anderen Dörfern ein Teil der Gemeinde Riedbach. Ihr Vater Noah Sichel war von 1880 bis zu seinem Tod dort Religionslehrer, Kantor und Schächter der jüdischen Kultusgemeinde gewesen, der jeder fünfte Dorfbewohner angehörte. Klara Sichel musste wie ihre Mutter Karoline 1939 nach Würzburg ziehen, wo die jüdischen Männer, Frauen und Kinder in mehreren sogenannten "Judenhäusern" konzentriert wurden. Das Grab ihres 1914 gestorbenen Vaters auf dem jüdischen Friedhof in Kleinsteinach konnte sie ab dann nicht mehr besuchen, denn Juden war das Verlassen des Wohnorts verboten. Sie selbst würde nach ihrer Ermordung nie ein markiertes Grab haben.
Zur Durchführung der Deportation entstand eine Sonderkommission aus Gestapo, SS und Kriminalpolizei. Als "Sammelstelle" war das vom 22. bis 24. April beschlagnahmte Würzburger Veranstaltungslokal Platzscher Garten am heutigen Friedrich-Ebert-Ring bestimmt. Da die 850 aus Unterfranken zu verschleppenden Menschen nicht gleichzeitig "abgefertigt" werden konnten, verteilte die Gestapo die Ankunftszeiten auf drei Tage. Aus dem ganzen Regierungsbezirk sollten nach und nach Gruppen nach Würzburg gebracht werden. Am letzten Tag waren Würzburg selbst und die umliegenden Orte an der Reihe.
Leibesvisitationen gefilmt - in grellem Scheinwerferlicht
Der 24. April 1942 war ein Freitag, also begann mit Sonnenuntergang der Schabbat. Statt diesen heiligen Tag feiern zu können, mussten Klara Sichel und die anderen Jüdinnen und Juden die Durchsuchung über sich ergehen lassen. Auf der Bühne des großen Saales, in dem ansonsten Bälle und Kulturveranstaltungen stattfanden, stand ein SS-Posten. Der Raum war mit einer 20.000 Watt starken Lichtanlage erleuchtet. Kameraleute aus Nürnberg filmten die Leibesvisitationen. Das helle Scheinwerferlicht machte die ohnehin entwürdigende Prozedur noch unwürdiger.
Am Samstag wurden die zu Deportierenden von Polizisten zum Güterbahnhof Aumühle eskortiert. Während der im Platzschen Garten gedrehte Film unauffindbar blieb, existiert ein Foto vom Marsch zur Aumühle. Alle Jüdinnen und Juden trugen den gelben Davidstern an der Kleidung, zusammen mit dem vorgeschriebenen vier mal zehn Zentimeter großen Karton, auf dem die Evakuierungsnummer und die Heimatanschrift standen.
Nach 66 Stunden: Ankunft des Todeszuges im besetzten Polen, an der Grenze zur Ukraine
Kurz nach der Abfahrt am Güterbahnhof passierte der Deportationszug um 15.20 Uhr an jenem 25. April 1942 den Würzburger Hauptbahnhof. In Bamberg hielt der Zug, 103 weitere Personen stiegen dort ein. Danach fuhr der Transport aus Unterfranken durch das besetzte Polen, das sogenannte "Generalgouvernement". Nach mehr als 66 Stunden kam der Zug am 28. April, einem Dienstag, um 8.45 Uhr in der Kreisstadt Krasnystaw im Distrikt Lublin an. Laut dem Bericht eines begleitenden Kriminalbeamten hatte es während der Fahrt keine "besonderen Vorfälle" gegeben.
Tatsächlich muss die annähernd dreitägige Fahrt in dem Todeszug für die fast 1000 Männer, Frauen und Kinder eine Tortur gewesen sein. Ohne Schlafgelegenheit, mit völlig unzureichenden Sanitäranlagen und auf engstem Raum zusammengepfercht, litten die Deportierten unter Durst und der Kälte. Überlebende anderer Transporte berichteten, dass gerade der Durst bei den tagelangen Fahrten zu den quälendsten Erinnerungen zählte, denn zu trinken bekamen die Verschleppten nichts. Über allem schwebte die peinigende Ungewissheit über die Zukunft.
Transitghetto eingerichtet - auf dem Weg in die Vernichtungslager Sobibor und Belzec
Die Menschen aus Unter- und Oberfranken mussten von Krasnystaw zu Fuß etwa 15 Kilometer in das Dorf Krasniczyn in der Nähe der Grenze zur heutigen Ukraine gehen, das nicht unmittelbar an der Bahnstrecke liegt. In Krasniczyn hatten die Nationalsozialisten im April 1941 ein Transitghetto eingerichtet, durch das, ebenso wie durch das benachbarte Ghetto Izbica, Deportierte geschleust wurden, die anschließend in den nahegelegenen Vernichtungslagern Sobibor und Belzec ermordet werden sollten.
Als der Transport ankam, erlebten die Verschleppten einen Schock: Krasniczyn war ein armes Dorf ohne Elektrizität und fließendes Wasser. In enge Häuser, die seit der Ermordung der meisten einheimischen Juden leer standen, wurden nun die Deportierten gepfercht, darunter Klara Sichel. "Wir wohnen zu elft in einem Raum", schrieb ein Mann nach Hause. "In den Wohnungen herrscht große Armut." Am quälendsten sei die "Erledigung der Klosetttätigkeiten" in der Natur. Dieser Brief kam trotz der Postkontrolle durch. Doch das Schreiben einer hungernden Würzburgerin in die Heimat, ein verzweifelter Hilferuf, wurde abgefangen: "Wir bitten herzlich um Liebesgaben", hieß es darin. "Wir bitten um Suppeneinlagen und -würfel."
"Vorhof der Hölle": Hunger und Krankheiten, Schikanen und Gewalt ausgesetzt
Es ist wahrscheinlich, dass schon in Krasniczyn einige der Deportierten an Krankheiten, die nicht behandelt werden konnten, oder an Hunger starben. Die Transitghettos Krasniczyn und Izbica waren "Vorhöfe der Hölle", schrieb der vor kurzem gestorbene Kitzinger Historiker Elmar Schwinger: "Zu den unwürdigen Lebensbedingungen, zu Hunger, Krankheiten, Seuchen und Schikanen traten jetzt die hemmungslose Gewalt in Gestalt des von allen Tabus losgelösten SS-Personals und die panische Angst vor dem Abtransport zu einem zwar unbekannten, aber gerade deshalb Grauen erregenden Ziel."
Der Abtransport kam wenige Wochen später: Im Juni 1942 liquidierten die Deutschen das Ghetto. Sie trieben 200 Jüdinnen und Juden auf den Friedhof von Krasniczyn und erschossen sie dort. Die Verbliebenen mussten sich zu Fuß ins etwa 19 Kilometer entfernte Dorf Izbica schleppen. Die rund 70 Kilometer zum im Süden gelegenen Vernichtungslager Belzec fuhren sie anschließend wahrscheinlich mit der Bahn, möglicherweise in einem Güterwaggon. In Belzec hatte die SS im März 1942 mit der industriellen Ermordung von Juden mittels Autoabgasen anstelle des später anderswo verwendeten Zyklon B begonnen.
In Belzec endete aller Wahrscheinlichkeit nach das Leben der Unterfränkin Klara Sichel, falls sie nicht schon vorher erschossen wurde oder verhungert oder an einer Seuche gestorben war.
"Desinfektionsbad": Langer Todeskampf in den Gaskammern
Die zu Ermordenden erfuhren nach dem Aussteigen, dass ein "Desinfektionsbad" für sie vorbereitet sei. Den Frauen wurden in einer Baracke die Haare geschoren, die an Fabriken im Reich gingen, die sie zu Filz verarbeiteten. In einem Hof in unmittelbarer Nähe der Gaskammern mussten sich alle auszuziehen, ihre Kleider bündeln und die Schuhe zusammenbinden. Über dem Eingang der Gaskammern stand "Bade- und Desinfektionsraum", von der Decke hingen Duschköpfe herab, die allerdings bloße Attrappen waren. Nach dem Todeskampf, der 20 bis 30 Minuten dauerte, hatten Männer des jüdischen Sonderkommandos die Leichen, nachdem zuvor die Goldplomben herausgebrochen worden waren, in Gruben zu werfen. Andere reinigten die Gaskammern.
In der Absicht, Spuren zu verwischen, öffnete man die Massengräber später; Häftlinge mussten die verwesten Leichen auf Rosten aus Eisenbahnschienen verbrennen. Monatelang loderten Tag und Nacht die Feuerstellen. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass in diesem an Dante erinnernden Inferno auch die sterblichen Überreste von Klara Sichel aus Kleinsteinach verbrannten. Als das Vernichtungslager Belzec im Dezember 1942 aufgelöst wurde, waren hier etwa 500.000 Männer, Frauen und Kinder ermordet worden.
Aus Unterfranken hat niemand die Deportation des 25. April 1942 überlebt. Auch Klara Sichels Mutter und mehrere ihrer Schwestern wurden im Holocaust ermordet. In Kleinsteinach erinnert heute ein kleines Museum an die ehemaligen jüdischen Einwohner des Dorfes. Und in Würzburg führt vom Ort, an dem der Platzsche Garten stand, ein "Weg der Erinnerung" zum längst aufgelösten Güterbahnhof Aumühle.
Wir müssen die Erinnerung wach halten damit so etwas nie wieder in diesem Land möglich ist!
Man muss sich das mal vorstellen:
Unter unseren Augen wurden Tausende in die Todes Lager verschleppt und niemand hat einen Finger gerührt oder auch nur den Mund auf gemacht.
Und schon wieder bekommen Leute, die dieses Mordgeschehen als "Vogelschiss in der Geschichte" verharmlosen viel zu viele Wählerstimmen!
Lasst uns alle zusammenhalten gegen Rassismus und Menschenverachtung!