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WÜRZBURG
Ermittler Martin Hinterseer sucht keine Mörder mehr
Mordermittler Martin Hinterseer aus Helmstadt hört auf
Foto: Thomas Obermeier | Mordermittler Martin Hinterseer aus Helmstadt hört auf
Manfred Schweidler
 |  aktualisiert: 07.04.2020 11:21 Uhr

Fast jeder Mordermittler hat den einen Fall, der ihm ein Leben lang haften bleibt – auch wenn er geklärt ist. Bei dem Würzburger Hauptkommissar Martin Hinterseer ist es ein 15 Jahre alter Mord: 2002 war in Arnstein die fast 80-jährige Irene Feineis mit 47 Messerstichen getötet worden – von ihrer Tochter, wie sich herausstellte.

Es gab bis zum Schluss kein Geständnis der Tatverdächtigen. Das Gericht musste sich ganz auf die Indizien verlassen, die Hinterseer und seine Kollegen Puzzleteil für Puzzleteil zusammengesetzt hatten. Die ergaben ein Bild, das die Richter überzeugte. Vor dem Urteil würdigte der Vorsitzende Richter Jürgen Treu in einer halbstündigen Rede die Arbeit der peniblen Faktensammler – eine seltene Geste, wie Martin Hinterseer nach insgesamt 46 Jahren im Beruf weiß.

Von der Pike auf gelern

Manche nennen Hinterseer einen pedantischen Aktenfresser. Andere rühmen das elefantöse Gedächtnis des Kripo-Mannes bei scheinbar unwichtigen Kleinigkeiten. Fest steht: Keiner weiß mehr über Morde und deren Aufklärung in Mainfranken als Martin Hinterseer.

Er hat den Beruf von der Pike auf gelernt, er ist einer aus der alten Garde der Mordermittler, die sich nicht auf andere verlassen, sondern alles mit eigenen Augen gesehen haben wollen. Der Zustand des Tatortes gibt ebenso Hinweise wie die Untersuchung einer Leiche in der Rechtsmedizin – selbst, wenn an Heiligabend die eigene Familie zu Hause wartet.

Familien müssen leidensfähig sein

Seine Frau hat das viele Jahre mitgetragen, Familien von Mordermittlern müssen leidensfähig sein. „Da hat man schon mal ein Grundwissen, was Sache ist“, betont er und dreht nachdenklich die Tasse – ausgerechnet mit dem Emblem der Münchner „Löwen“ – in den Händen. An Leidensfähigkeit scheint es ihm selbst auch nicht zu mangeln.

Hinterseer erinnert in seiner rustikal-bayerischen Herzlichkeit ein wenig an den Volksschauspieler Gustl Bayrhammer. Dessen legendärer Tatort-Kommissar Veigl könnte ihm in wesentlichen Zügen nachempfunden sein. Er sei „eine Legende“, sagt zu Hinterseers Abschied ein Kollege. Der scheidende Kripo-Mann winkt müde lächelnd ab. Mit großen Worten hat er es nicht so.

Dass in Mainfranken in den vergangenen drei Jahrzehnten über 90 Prozent der Morddelikte aufgeklärt wurden, ist aber der Hartnäckigkeit von Ermittlern wie ihm zu verdanken, die ihr Handwerk noch von der Pike auf gelernt und jahrzehntelang ausgeübt haben. Moderne Personalplanung, bei der jeder Polizist alles (ein bisschen) können muss und mal bei Großeinsätzen, mal bei Verkehrsüberwachung und dann bei Mordermittlungen reinschnuppern soll, ist Hinterseers Sache nicht.

Das Credo des Mordermittlers

Er war Mordermittler fast vom ersten Tag an. Bis zu seiner Pensionierung hat er sich 37 Jahre lang mit Sterbe- und Tötungsdelikten befasst. Er ist keiner jener glamourös-plaudernden Ermittler, die (nur im Fernsehen) in 87 Minuten einen Mord klären. Hinterseer weiß aus dem echten Leben, wie Blut riecht, wie eine Leiche stinkt – und wie mühsam es sein kann, den Täter zu überführen.

„Du sollst nicht töten!“ steht auf einem Plakat, das in Hinterseers Büro hängt – das Credo eines Mordermittlers. Ehe er ein Gespräch beginnt, lehnt er sich in seinem Bürostuhl zurück, schafft sich Distanz. Schweigend mustert er für einige Sekunden sein Gegenüber, mit fast geschlossenen Augen, skeptisch gespitztem Mund und fast feindselig verschränkten Armen. Das alles vermittelt die unausgesprochene Botschaft: „Binde mir bloß keinen Bären auf, ich weiß mehr über Dich als Du glaubst!“

Da ahnt man, wie sich ein Verdächtiger in einem Mordfall fühlen muss. Manche nennen Hinterseer eigenwillig und stur. Andere schätzen, dass er zu seiner Meinung steht, auch wenn sie unbequem ist. Manche Vorgesetzten stöhnen, wenn sie nur den Namen hören – geben aber widerwillig zu: „Was wir am Martin Hinterseer haben, werden viele erst dann merken, wenn er in Pension ist.“

In viele Fälle involviert

Ob Foltermord in Volkach oder die Leiche im Weinfass in Dettelbach, der Pizzamord und der Mann, der in Heidingsfeld die Leiche in der Schubkarre wegschaffte– „in der Zeit hat es nur wenig Delikte gegeben, in denen ich nicht involviert war“, zieht er Bilanz.

Von fast allen Fällen hat er noch fast alle Fakten im Kopf – und wo er sich unsicher ist, greift er hinein ins vollgestellte Regal hinter seinem Bürostuhl, wo sich die Akten der Fälle über mehrere Meter aneinanderreihen, und findet fast auf Anhieb die Antwort.

55 Fälle hat er über die Jahre selbst verantwortet, noch einmal so viele, an denen er mit dem Sachbearbeiter eng zusammenarbeitete. Fälle, in denen gequält und kalt gemordet wurde, durch Erschießen, Erstechen oder Erschlagen. „Ich habe viele Namen im Kopf“, sagt er nachdenklich.

Mit Leib und Seele Ermittler

Hinterseer war mit Leib und Seele Ermittler. Aber er kennt auch den Preis, den man dafür zahlt: „Manchen Fall nimmt man abends mit nach Hause“, erzählt er zögernd. „Man überlegt Tag und Nacht, wie der Ablauf gewesen sein könnte.“ Da sei ein Ermittler völlig auf dieses Verbrechen fixiert. „Das muss jemand wissen, wenn er diesen Beruf ergreifen will“, erklärt er. „Man muss viel ausblenden können, um nicht den Faden zu verlieren, und man muss sich richtig festbeißen können.“

Was das Gericht dann aus den Ermittlungen mache, müsse man akzeptieren – auch wenn man den Fall vielleicht selbst anders sieht: „Was einer kriegt, das kriegt er!“, sagt Hinterseer und senkt ergeben den Kopf. „Für mich ist das dann erledigt.“ Aber es habe schon Täter gegeben, bei denen er sich fragte: „Wie kam der jetzt in diese Situation?“

Was einen guten Mordermittler ausmache? Ausdauer, Hartnäckigkeit, sorgfältige Aktenführung. „Man darf sich nicht verleiten lassen, zu emotional an eine Geschichte ranzugehen“, sagt Martin Hinterseer. Und vor Berufsblindheit müsse man sich schützen: „Ich habe stets einen Kollegen gebeten: Kannst du meinen Bericht gegenlesen?“ Denn jeder betrachte Ermittlungsergebnisse mit anderen Augen, gemeinsam einen Blick darauf zu werfen, schütze vor vorschnellen Beurteilungen.

Nur drei Fälle ungeklärt

Nur drei Fälle stehen nach 37 Jahren ungeklärt in seinen Akten: Die mysteriöse Thallium-Giftserie Mitte der 80er Jahre an der Würzburger Universität, der Mord an Evelyn Höbler in Veitshöchheim und der Mord an einem türkischen Gastwirt in Sichtweite von Hinterseers Dienststelle in Würzburg.

Am Thalium-Fall hat er erst vor kurzem wieder eine Spur verfolgt, die dann im Sande verlief. Bei Höbler hat er Jahre später mit verbesserten Analysemethoden DNA-Spuren des Täters sichern lassen – was schon in anderen Fällen nach Jahren zum Erfolg führte. „Natürlich ist jeder ungeklärte Mord einer zuviel“, sagt er. Er nimmt dies aber nicht als Last mit nach Hause. Jetzt – so kurz vor der Pension – bekennt er: „Ich habe meinen Frieden gefunden.“ Denn „wir haben wirklich alles versucht“ in diesen Fällen.

Dem Fußball verbunden

Wie man nach der Aufklärung einen Mord aus dem Kopf bekommt? „Jeder macht das anders“, sagt er. Natürlich müsse man abschalten können. „Mir hat viel geholfen, dass ich dem Jugendfußball verbunden war.“ Konkret hieß das: Hinterseer engagierte sich als Funktionär beim FC Helmstadt und im Bayerischen Fußballverband, auch im Pfarrgemeinderat und Gemeinderat. Das alles hat er jetzt abgegeben, um nach der Pensionierung erst einmal Luft zu holen. „Ich brauche jetzt nicht dringend eine neue Beschäftigung.“

In den letzten drei Jahren hat sich Hinterseer viel mit den wenigen ungeklärten alten Mordfällen in der Region beschäftigt. Hat noch einmal Akten gelesen, bewertet, überprüft. Und es sieht aus, als gebe das Schicksal dem Überzeugungstäter Hinterseer ein kleines „Dankeschön“ mit in den Ruhestand. Ganz zum Schluss hat er in einem alten Fall noch entscheidende Indizien gesammelt, mit denen ein ungeklärter Mord nach 20 Jahren doch noch geklärt werden kann. Demnächst soll die Anklage stehen.

Keine Fernseh-Krimis

„Ich habe alles geordnet übergeben“, sagt Hinterseer. Und er wird auch künftig selten Fernseh-Krimis anschauen: „Die sind so unrealistisch, da spielt sich alles nur noch in der Rechtsmedizin ab.“ Die sei zwar auch im richtigen Leben eine große Hilfe. Gelöst werden die Fälle aber eher von Ermittlern wie ihm.

 
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