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Würzburg
Behandlungsfehler in der Medizin: Eine Schraube und die schwierige Suche nach der Wahrheit vor Gericht in Würzburg
Eine Patientin hat nach einer OP dauerhaft Schmerzen. Sie sieht einen Behandlungsfehler und klagt. Was lässt sich beweisen? Und wie entscheiden Gutachter und Juristen?
Eingriff nicht gut verlaufen? Wenn sie einen Behandlungsfehler vermuten, stehen Patientinnen und Patienten in der Beweispflicht (Symbolbild). 
Foto: Felix Kästle, dpa | Eingriff nicht gut verlaufen? Wenn sie einen Behandlungsfehler vermuten, stehen Patientinnen und Patienten in der Beweispflicht (Symbolbild). 
Susanne Schmitt
 |  aktualisiert: 15.07.2024 15:35 Uhr

Eine durchsichtige Plastiktüte. Darin eine einzelne Schraube, nur wenige Zentimeter lang. Mehr als drei Monate war sie in Annika Meiers Handgelenk verschraubt und sollte den gebrochenen Unterarmknochen zusammenhalten. Doch stattdessen verursachte die Schraube Schmerzen, Verzweiflung und Ärger. Erst nach einer Revisionsoperation heilte die Radiusfraktur. Und Annika Meier, die in Wirklichkeit anders heißt, bekam die Schraube in die Hand gedrückt. Ein Beweis für einen Behandlungsfehler?

Fakt ist: In der Medizin passieren Fehler, wie in allen Lebensbereichen. Sie zu belegen, ist jedoch nicht leicht. Patienten stehen in der Beweispflicht, Experten schätzen die Chancen auf Schadensersatz generell eher gering ein. Kommt es zum Gang vor Gericht, beginnt oft eine schwierige Suche nach der Wahrheit.

Patientin und Anwalt fordern vor Gericht in Würzburg Schadensersatz

Herbst 2023. Ein Sitzungssaal im Landgericht Würzburg. Annika Meier ist nervös. Immer wieder zieht sie den Ärmel ihres Blazers nach vorne, über das Handgelenk, über die Narbe. Es ist der erste Verhandlungstag ihres Falles. Meier klagt gegen die Klinik, in der ihr Bruch im Frühjahr 2018 erstmals operiert worden war, sowie gegen einen niedergelassenen Arzt, der sie danach betreut hatte.

Der Klinik wirft Meier einen Fehler bei der Operation vor. Dem Facharzt, dass er bei der Nachbehandlung geschlampt und die nötige Revisions-OP damit verschleppt habe. Bis heute, mehr als fünf Jahre nach dem Bruch, fehle ihr in der rechten Hand Kraft und Beweglichkeit und sie könne die Faust nicht richtig ballen. Annika Meier sagt: "Ich habe jeden Tag Schmerzen."

Sie ist selbst Krankenschwester, arbeitet pikanterweise in der Klinik, in der die Fraktur operiert worden war. Mittlerweile sei sie auf eigenen Wunsch aufgrund ihrer Einschränkungen auf eine andere Station versetzt worden, führe leichtere Tätigkeiten aus. Für sie und ihren Würzburger Anwalt Alexander Lang ist klar: Schuld sind Behandlungsfehler.

"Ich habe jeden Tag Schmerzen."
Annika Meier nach ihrer Unterarm-OP

Die eingesetzte Schraube sei falsch positioniert worden, sagt Lang. Und obwohl das auf Röntgenbildern "deutlich sichtbar war", sei seiner Mandantin auch von dem nachbehandelnden Arzt nicht geholfen worden. Deshalb fordern sie vor Gericht Schmerzensgeld und Schadensersatz. Die Klinik und der niedergelassene Arzt weisen die Vorwürfe zurück.

Wer hat recht? Wurden Fehler gemacht – und wenn ja, von wem?

Medizinischer Dienst der Krankenkassen prüft Verdachtsfälle

Wer als Kassenpatient einen Behandlungsfehler vermutet, kann seine Unterlagen zunächst vom Medizinischen Dienst (MD) prüfen lassen. So wurden allein 2022 bundesweit mehr als 13.000 fachärztliche Gutachten zu vermuteten Behandlungsfehlern erstellt. "In jedem vierten Fall wurde ein Fehler mit Schaden bestätigt – in jedem fünften Fall war der Fehler Ursache für den erlittenen Schaden", heißt es vom MD.

Dabei bezogen sich zwei Drittel der Vorwürfe auf Leistungen in der stationären Versorgung, ein Drittel auf Arztpraxen. Im Verhältnis zu Millionen Behandlungsfällen pro Jahr sind diese Zahlen gering. Allerdings, so der MD, dürfte die Dunkelziffer hoch sein. Längst nicht alle Fehler würden angezeigt.

Auch Annika Meier wandte sich zunächst an den Medizinischen Dienst und schilderte ihren Fall. Sie schickte Röntgenbilder an die Krankenkasse, die direkt nach der OP angefertigt worden waren. Die Kasse habe all ihre Unterlagen an den MD weitergeleitet und von dort seien sie zu einem externen Gutachter geschickt worden - "hier kamen sie nie an und wurden bis heute nicht gefunden", so Meier. Trotzdem entschied sie sich mit ihrem Anwalt für eine Klage.

Am Landgericht Würzburg: 61 Verfahren zu medizinischen Streitfällen in 2023

Insgesamt sind im Jahr 2023 am Landgericht Würzburg 61 Verfahren zu medizinischen Streitfällen eingegangen, wie eine Gerichtssprecherin mitteilt. Das sei "ein eher geringer Prozentsatz" angesichts der gesamten Zahl an Zivilverfahren. Monatlich würden im Schnitt fünf bis sechs Rechtsstreitigkeiten "über Ansprüche aus Heilbehandlungen" verhandelt.

Am Landgericht Würzburg sind im vergangenen Jahr insgesamt 61 Verfahren zu medizinischen Streitfällen eingegangen.
Foto: Daniel Peter | Am Landgericht Würzburg sind im vergangenen Jahr insgesamt 61 Verfahren zu medizinischen Streitfällen eingegangen.

Bei Annika Meiers Verhandlung werden Röntgenbilder gezeigt, die während der OP angefertigt worden waren. Eindeutig zu erkennen ist darauf laut des gerichtlichen Gutachters nichts. Der Sachverständige, der selbst Arzt ist, spricht von "Komplikation" statt von "Behandlungsfehler". Die Klinik habe aus seiner Sicht sorgfältig agiert. Der nachbehandelnde Arzt dagegen habe aufgrund von später gemachten Bildern weitere Untersuchungen veranlassen müssen, habe Fehler bei der Befunderhebung gemacht.

Gutachter versuchen vor Gericht, die Behandlung anhand der Unterlagen zu bewerten

Wie kommen Gutachter zu einer Einschätzung? Für ihn seien der Erstbefund und die Erstbilder "ganz wichtig", erklärt Prof. Arash Moghaddam. Damit mache er sich sein eigenes, möglichst unverfälschtes Bild. Der Orthopäde und Unfallchirurg aus Aschaffenburg, der mit Annika Meiers Fall nichts zu tun hat, steht seit mehr als zehn Jahren immer wieder als Sachverständiger vor Gericht. "Sie können nur anhand dessen bewerten, was Sie an Unterlagen zur Verfügung haben", sagt Moghaddam. Damit versuche man, den Fall Stück für Stück zu rekonstruieren. "Es ist wie ein Puzzle."

"Es ist wie ein Puzzle."
Prof. Arash Moghaddam, Orthopäde und Unfallchirurg und Gerichtsgutachter

Generell lerne man als Mediziner mit jedem Gutachten dazu. Wichtig sei, den Fall nicht aus der nachträglichen Perspektive einzuschätzen, sagt so Moghaddam: "Die Frage ist immer, ob der Arzt das zum Zeitpunkt der Behandlung besser hätte machen können." Manchmal passierten in der Medizin Fehler, das müsse man als Gutachter auch klar benennen. Oft aber handle es sich schlicht um einen "schicksalhaften Verlauf".

Das bestätigt ein Würzburger Mediziner, der ebenfalls als Gutachter tätig ist und nicht namentlich genannt werden möchte. Auch er arbeitet seit mehr als zehn Jahren für Gerichte, auch er hat keine Verbindung zu Annika Meiers Fall. Nach seiner Erfahrung hätten viele Fälle damit zu tun, "dass etwas eingetreten ist, was nicht geplant war". 

"Es geht nicht darum, eine Seite zu unterstützen – sondern dem Gericht als Berater zur Verfügung zu stehen."
Würzburger Mediziner, der seit mehr als zehn Jahren als Gutachter tätig ist

Es gehe bei der Begutachtung schlicht darum, den Juristen zu helfen, medizinische Sachverhalte zu verstehen. Meist gebe man zunächst ein schriftliches Vorgutachten ab und führe die Punkte dann in einer Verhandlung aus: "Als Gutachter spielen wir dem Richter nur die Informationen zu, die er braucht, um Entscheidungen objektiv treffen zu können", sagt der Arzt. "Es geht nicht darum, eine Seite zu unterstützen – sondern dem Gericht als Berater zur Verfügung zu stehen."

Er selbst stehe in der Regel einmal pro Monat als Experte vor Gericht - nicht in Würzburg, sondern an weiter entfernten Orten. Die Distanz zum Arbeitsort sei vorgegeben, um Verstrickungen zu verhindern. Von außen beeinflusst worden sei er in all den Jahren noch nie, sagt der Mediziner. Anfeindungen hingegen kämen vor. Etwa, wenn man als Gutachter den Vorwürfen des Klägers nicht folge. "Aber das muss man zur Kenntnis nehmen und neutral bleiben."

Auch Annika Meier hatte sich eine andere Einschätzung des Gutachters in ihrem Fall erhofft. Eine klare Schuldzuweisung des Experten an die Klinik und den niedergelassenen Arzt - und damit die Bestätigung, Opfer eines oder mehrerer Behandlungsfehler zu sein.

Sie fragt in der Verhandlung nach, mehrmals, legt dem Gutachter dann verzweifelt die Plastiktüte mit der Schraube vor. Ob sich daran nicht erkennen lasse, dass ein Fehler gemacht wurde?

Die Schraube, die mehr als drei Monate in Annika Meiers Handgelenk verschraubt war.
Foto: Benjamin Stahl | Die Schraube, die mehr als drei Monate in Annika Meiers Handgelenk verschraubt war.

Der Gutachter betrachtet die Plastiktüte nur kurz und verneint. Er bleibt bei seiner Einschätzung. Für Rechtsanwalt Alexander Lang ist das unverständlich. Seine Mandantin sei "enttäuscht", sagt er kurz nach der Verhandlung. Anhand des schriftlichen Vorab-Gutachtens seien sie davon ausgegangen, dass sowohl die Klinik, als auch der Arzt haftbar seien. Nun schwinden die Chancen auf einen Erfolg vor Gericht.

Rechtsanwalt: Ohne Gutachten haben Patienten kaum eine Chance vor Gericht

Die Wahrscheinlichkeit, dass ein medizinischer Fehler vor Gericht anerkannt werde, liege seiner Erfahrung nach bei etwa 50 Prozent, sagt der Rechtsanwalt Christoph Hamann aus Würzburg. Er hat vor seinem Jurastudium eine Ausbildung zum Krankenpfleger und Rettungsassistent abgeschlossen und betreut vor allem Arzthaftungsfälle.

Fast wöchentlich stehe er bei einem Medizinrechtsfall vor Gericht, sagt Hamann. Tendenz steigend. Das Schwierigste sei eben der Nachweis eines Fehlers. "Sie können als Patient noch so sehr davon überzeugt sein und ich kann als Anwalt noch so stichhaltige Argumente aus der Patientenakte herauslesen – wenn Sie kein Sachverständigengutachten bekommen, das Ihnen genau diesen Fehler und die Ursächlichkeit für Ihr Leiden bescheinigt, dann haben Sie keine Chance."

Für Anwälte seien Streitfälle aus der Medizin herausfordernd, sagt Hamann. Es gehe um Schicksale, Leben, oft um den Tod. Trotz aller Emotionen müsse man Distanz wahren. Manchmal falle das nicht leicht, gibt der Anwalt Hamann zu. Kürzlich erst habe er Eltern vertreten, deren Kind mit nicht einmal zwei Jahren starb.

Der Bub habe lange an schwallartigem nüchternem Erbrechen gelitten, der Kinderarzt und auch eine Klinik hätten "trotz der eindeutigen Symptome" zu lange an einen Infekt geglaubt. Der Gehirntumor des Kindes wurde erst spät festgestellt, die Chemotherapie konnte den Zweijährigen nicht mehr retten. Vor Gericht sei ein Vergleich erzielt worden, die Eltern bekamen 10.000 Euro, sagt Hamann. "Das wiegt natürlich das Leid in keiner Weise auf und bringt auch das Kind nicht mehr zurück – aber es ist wenigstens etwas."

Am Ende Klage gegen die Klinik zurückgezogen - und ein Vergleich mit dem Arzt

Auch Annika Meiers Fall endet am 29. Dezember 2023 mit einem Vergleich: "Der nachbehandelnde Arzt hat 75 Prozent der Forderungen beglichen", sagt Anwalt Alexander Lang. Die Klage gegen die Klinik hätten er und seine Mandantin zurückgezogen.

Zufrieden ist Annika Meier damit nicht. Sie ist nach wie vor überzeugt, dass bei der ersten Operation ein Fehler gemacht wurde. Die Einschätzung des gerichtlichen Gutachters könne sie nicht nachvollziehen, sagt die Krankenschwester. Der Frust, die Enttäuschung sitzen tief.

Doch den Gang vor Gericht bereut sie nicht: "Ich würde jederzeit wieder den Weg einschlagen, weil ich überzeugt bin, dass hier Unrecht geschehen ist."

Die Schraube bewahrt sie noch immer zu Hause auf - auch wenn sie kein Beweis eines Behandlungsfehlers ist.

 
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  • Klaus Fiederling
    Sicher - bei jeder OP können Fehler in medizinischer Hinsicht passieren, nur: müssen es halt unsere Ärzte dann auch zugeben, zu ihrem Fehler zu stehen. Schlimm für einen Patienten, wenn er durch eine OP hinterher noch mehr Schmerzen hat und noch schlechter der Gesundheitszustand ist, wenn durch Fahrlässigkeit so etwas passiert. Da muß dann halt auch
    mal ein Arzt "Mea kulpa" machen und sich dafür entschuldigen. Mir auch so was ähnliches passiert, vor Jahren mit meinem rechten Mittelfinger.
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  • Martin Deeg
    Das ist doch alles kosmetisches Geplänkel.

    Ziel der Justiz ist es, die Fälle möglichst unkompliziert vom Tisch zu bekommen, das Ziel der Beklagten ist es, jede Verantwortung abzuweisen und das Ziel des Gutachters ist es, als verlässlich zu gelten und auch zukünftig die gut honorierten Aufträge zu erhalten!

    Dass es auf die Auswahl des Gutachters ankommt, ist eine Binsenweisheit. Und selbst wenn ein örtlicher Gutachter - wie persönlich in der Würzburger Justiz erlebt - ein eklatantes Fehlgutachten unter Missachtung der Mindeststandards der (psychiatrischen) Begutachtung (!) erstattet und dies durch das Obergutachten einer von außerhalb kommenden über jeden Zweifel erhabenen Koryphäe aus dem Fachbereich BELEGT ist, werden durch das Landgericht Würzburg trotz schwerer Folgen dieses Fehlgutachtens die Zivilklagen durch die Justiz Würzburg auf dem Aktenweg entledigt, quasi in eigener Sache.

    Der örtliche Gutachter erstattet derweil munter weiter Gutachten für die bayerische Justiz.
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  • Steffen Cyran
    Können Sie es nicht mal sein lassen, bei jeder passenden (und unpassenden) Gelegenheit Ihre "Leidensgeschichte" immer und immer wieder zu wiederholen?
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  • Ute Schlichting
    Patienten stehen in der Beweispflicht, Experten schätzen die Chancen auf Schadensersatz generell eher gering ein. Wie soll ich als Patient das können? Auch Annika Meier wandte sich zunächst an den Medizinischen Dienst und schilderte ihren Fall. Sie schickte Röntgenbilder an die Krankenkasse, die direkt nach der OP angefertigt worden waren. Die Kasse habe all ihre Unterlagen an den MD weitergeleitet und von dort seien sie zu einem externen Gutachter geschickt worden - "hier kamen sie nie an und wurden bis heute nicht gefunden", so Meier. Trotzdem entschied sie sich mit ihrem Anwalt für eine Klage. Ach Gott wie Praktisch,sind die Akten weg,hab ich doppelt die A..karte. Da Lob ich mir die USA,da muß der Doc beweisen das er keinen Mist gebaut hat.
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