Allein die berühmten Kirchen Vierzehnheiligen und Neresheim und die Wallfahrtskirche Maria Limbach im Steigerwald hätten wohl genügt, um Balthasar Neumann einen Spitzenplatz unter den ganz großen Architekten in der Geschichte der Kunst zu sichern. Von der Residenz in Würzburg, dem Unesco-Weltkulturerbe, gar nicht zu reden. Kaum einer hat sich mit Balthasar Neumann so lange und intensiv beschäftig wie Erich Schneider. Ihn fasziniert am Baumeister, der im 18. Jahrhundert in Diensten der Würzburger Fürstbischöfe stand und dessen Rat und Kunst an Main und Rhein gefragt war, aber noch viel mehr - und anderes.
Gerade hat der Kunsthistoriker eine kleine Biografie des großen Barockarchitekten geschrieben. Warum sieht der 68-Jährige aus Schwebheim (Lkr. Schweinfurt) in Neumann den Erfinder des Ingenieur-Berufs und was zeichnet seine Bauten aus? Ein Gespräch über Wasserleitungen, verschränkte Rotunden - und Kirchenräume im Morgenlicht.
Dr. Erich Schneider: Es gibt Regalmeter Literatur über Balthasar Neumann und natürlich viele Neumann-Biografien, zuletzt 1999 eine große bei DuMont. Aber es gab keine "aktuelle". Das 18. Jahrhundert ist nicht im Fokus, merkwürdigerweise auch wissenschaftlich nicht. Wer interessiert sich wirklich für ihn?
Schneider: Die beiden besetzen Felder. Und ihnen wird auch grundsätzlich zu viel zugeschrieben. Alles, was irgendwie geschnitzt ist und wie 16. Jahrhundert ausschaut, ist Riemenschneider. So ähnlich ist es bei Balthasar Neumann. Der Mann war für Friedrich Carl von Schönborn und für die folgenden Fürstbischöfe für alles, was mit Bauen in Würzburg und bis 1746 auch in Bamberg zu tun hatte, zuständig. Und er ist bei den Brüdern und Verwandten herumgereicht worden in der Rhein-Main-Gegend. Speyer, Bruchsal, Konstanz – das hat dazu geführt, dass alles, das irgendwie so ausschaute, mit Neumann in Verbindung gebracht wurde.
Schneider: Das Problem ist. Bis zu seinem Lebensende war Neumann hier in Würzburg Mitglied der Stadtbaukommission. Der Plan von jedem Bau, der hier in Würzburg errichtet werden sollte, musste über seinen Schreibtisch. Neumann musste sein Placet dazu geben. Das führte vielfach dazu, dass er hier mal ein Strich machte, da mal ein Strich, dort mal ein anderes Dach wollte oder an der Fassade etwas änderte. Am Ende erzeugte es eine Gesamtvorstellung davon, wie "Neumännisch" gebaut wird. Das hat weit über sein Leben hinaus gereicht. Die Fassadenturm-Kirche, die überall in den Dörfern steht, hat er einmal geplant, weil Friedrich Carl von Schönborn einen Musterplan wollte. Er war die Grundlage für Kirchen weit über seine Lebenszeit und weit über die Region hinaus. Sie war wirtschaftlich durchdacht und langlebig – Nachhaltigkeit ist nicht erst eine Erfindung unserer Tage. Mauergewölbe statt Holzdecke, das kostete den Bischof zwar mehr Geld – aber die Kirche war feuersicher.
Schneider: Das ist eine ganz schwer zu beantwortende Frage. Wenn Sie Kunsthistoriker fragen, ist Naumann die Ovalen-Rotunde in den Kirchen. Wie in der Hofkirche in Würzburg: die Folge von drei Ovalen als Kuppelbauten, die miteinander verbunden und verschränkt sind. Also ein hochintellektuelles Bauen, ein Bauen, das am Ende vielleicht sogar in die Aufklärung hinüberführt. Weil Neumann das Licht als gestaltendes Element eingesetzt hat, auch wenn ihm das nur in ganz wenigen Bauten gelungen ist. Die Kunsthistoriker vernachlässigen aber, dass Bauen auch Organisation bedeutet, Geldbeschaffen bedeutet. Darauf zu achten, dass der Main genügend Wasser hat.
Schneider: Damit ich aus Oberfranken genügend Floßholz hinunterbekomme und Schiefer für die Dächer. Wenn Sie nach typisch Neumann fragen: Er hatte offenbar eine besondere Fähigkeit, das Bauen zu organisieren. Und dafür zu sorgen, dass beispielsweise die Würzburger Residenz, die ja immer in Konkurrenz zum vorrangigen Festungs- und Kriegsbau stand, genügend Fuhrwerke hatte, um Bauholz, Steine, Handwerker dorthin zu bringen. Wie hat er das gemacht ohne Bauamt?
Schneider: Er hatte einen militärischen Rang und war zuletzt Oberst, ja. Aber nach Würzburg kam er als Stückgießergeselle, also Kanonengießergeselle. Nach sehr kurzer Zeit hat er sich Privatunterricht, so vermutet man, bei einem Würzburger Hauptmann genommen, der ihn ins fürstbischöfliche Militär brachte. Da stieg Neumann überraschend schnell auf. Ein junger Mann, der eben noch Geselle war, wird in einer glücklichen Konstellation auf einmal Bauleiter eines der größten Bauunternehmen, das europaweit zu vergeben war.
Schneider: Ich glaube schon, dass er selbstbewusst war. Aber er konnte was, er war vielseitig interessiert. Und er hatte wahnsinnig Glück in eine Phase zu kommen, als ein Würzburger Fürstbischof einfach bauen wollte. Er wollte diese Stadt zu einer Residenzstadt umbauen. Neumann hat diese Chance ergriffen, was nicht heißt, dass er nicht im Laufe seines Lebens immer wieder mal kleinere Karriereknicke hatte, weil man ihm zeitweise in der Verwaltung jemand vorgesetzt hat.
Schneider: Das ist ein Faszinosum. Sie mussten wissen, wie groß dieser Bau wird! Sie haben den ersten Grundstein gesetzt, lange bevor die Pläne alle fertig waren. Aber gewisse Dinge sind sehr früh festgestanden. 1723 hat Neumann ein kunstvoll gestaltetes Thesenblatt gemacht: in der Mitte eine Stadtansicht von Würzburg, rings herum lauter kleine Bilder, wie er die Stadt umgestaltet, was er für Gebäude baut. Das heißt: 1723 hatte Neumann gewusst, was in den nächsten 10, 20, 30 Jahren passieren muss. Er hat eine Vision von dieser Stadt gehabt. Aber das ganz Spannende an diesem Neumann ist, dass wir über gewisse Dinge überhaupt nichts wissen.
Schneider: Die Theorie seines Bauens. Neumann hat Regalkilometer Briefe geschrieben, aber über die Rotunden steht darin kein Wort, keine Silbe. Was hat er sich mit diesen Rotunden gedacht? Mit dem Licht? Wir wissen es nicht.
Schneider: Mich fasziniert derart das "Making of"! Der Mann saß hier in Würzburg, ist gereist mit dem Marktschiff nach Frankfurt, ist geritten, zur Not auch zu Fuß gegangen. War nachmittags bei dem einen zum Termin, hat sich ins nächste Schiff gehockt, ist über Nacht am Rhein ein Stück gefahren, war früh um Neun beim nächsten zur nächsten Audienz und hat inzwischen schon wieder neue Pläne mitgebracht. Wie war das möglich? Wie kommuniziert so jemand?
Schneider: Vielleicht, dass man ihm alles zutraut, was in dieser Zeit gebaut worden ist. Er war zum Beispiel kein Genie. Er war viel mehr ein fleißiges Genie. 90 Prozent waren Fleiß. Über die letzten zehn Prozent, die Architekturtheorie, wissen wir zu wenig. Was sicher ist: Neumann hat nicht einfach nur Stein auf Stein gesetzt. Und er muss einer der Erfinder, der Mitbegründer des Ingenieurberufs gewesen sein.
Schneider: Neumann hat nicht "gerechnet", das hat in seinem Alltag keine Rolle gespielt. Aber die messerscharfen Architekturen: Bei Balthasar Neumann gibt es keinen Pfeiler, keinen Pilaster, der in einer architektonischen Ordnung einfach irgendwo verschwindet in der tollen Fassade und inszenierten "Show". Seine Architekturen sind von Anfang an messerscharf, präzise und genau. Das hat er vielleicht als Geschützgießer gelernt: Solch ein Kaliber musste genau sein.
Schneider: Die Schönbornkapelle, obwohl die wenigsten jemals drin waren, was schade ist. Dann muss man wissen, dass er die erste Wasserleitung in Würzburg gebaut hat. Nicht, damit schöne repräsentative Brunnen entstehen, sondern weil nur dieses fließende Quellwasser gesund war.
Schneider: Weil sie das Gegenstück zur Residenz darstellt. Eine Flucht von der Residenz hin zur Kapelle, in der ein Fürstbischof begraben werden würde. Ein Memento Mori, ein wichtiger Teil barocken Lebensverständnisses.
Schneider: Überrascht nicht. Aber der Aspekt des Ingenieurbaus hat sich verstärkt. Ich behaupte mal: 90 Prozent seiner Tätigkeit war Ingenieurbau. Neumann hat Brücken gebaut, Straßen gebaut, er hat öffentliche baufällige Häuser angeschaut und Maßnahmen entschieden – das war sein Alltag. Dann die Architektur der Aufklärung, das Rationale, der Licht-Aspekt – der hat sich für mich als immer wichtiger herausgestellt.
Schneider: Ich habe mich lange mit Werneck beschäftigt. Und ich finde die Schlosskapelle von Werneck eines der stärksten Bauwerke. Weil dort die architektonische Idee mit am Reinsten zum Ausdruck kommt und weil sie noch zu seinen Lebzeiten fertig gestellt wurde. Die andere Größe ist natürlich Neresheim. Das ist gebautes Licht! Ich bin leider jemand, der gerne lange schläft. Aber ich möchte einmal früh um Vier in dieser Kirche stehen, wenn die Sonne aufgeht. Das muss Wahnsinn sein, wenn dann von Osten das Licht durch diesen Chor fällt.
Schneider: Vielleicht die, als planender, bauleitender Architekt die vielen, vielen "Pferdchen" in der Entourage, die da mitgezogen haben, alle auf einen Weg zu bringen. Mit fünf Fürstbischöfen und Chefs. Und dann mit der Residenz ein Werk zu errichten, das am Ende wirkt, als sei es aus einem Guss. Und er war vielleicht der letzte Generalist.
Dr. Erich Schneider war viele Jahre Leiter der Museen und Galerien und des Kulturamts in Schweinfurt, dort Heimatpfleger und ab 2016 bis zur Pensionierung 2020 Gründungsdirektor des Museums für Franken in Würzburg. Promoviert hatte der Kunsthistoriker über "Die barocke Benediktinerabtei Münsterschwarzach". Der 68-Jährige ist Autor zahlreicher Publikationen zu fränkischen Themen und zur zeitgenössischen Kunst.
Das Buch: "Balthasar Neumann. Schlussakkord der Barockarchitektur", von Erich Schneider, Reihe "kleine bayerische biografien", Verlag Friedrich Pustet Regensburg, 168 Seiten, 14,95 Euro