
Diese Geschichte pendelt zwischen zwei Städten, die kaum vergleichbar sind: Gerolzhofen und Kiew. Das liegt nicht nur daran, dass die eine Stadt im Vergleich zur anderen Stadt, in der etwa 2,8 Millionen Menschen leben, ein kleines Nest ist. Der entscheidende Unterschied ist: Die Menschen in der Kleinstadt am Rand des Steigerwalds leben im Frieden. Die Metropole dagegen ist die Hauptstadt eines Landes im Krieg. Dort schlagen russische Bomben und Raketen ein. Menschen werden getötet.
Was beide Städte über gut 1400 Kilometer Luftlinie hinweg jedoch verbindet, ist das Schicksal zweier Frauen. Die eine, Iryna Nazarova (40), hat Gerolzhofen mit ihren beiden Kindern Anfang März dieses Jahres verlassen und ist zurückgekehrt in ihre Heimatstadt Kiew. Die andere, Vlada Nesterova (49), ist seit Anfang Juli wieder in Gerolzhofen. Sie hat es in Kiew nicht mehr ausgehalten, vor allem aus Sorge um ihren Sohn.
Als Nazarova Gerolzhofen vor einem halben Jahr verließ, war sie innerlich zerrissen: Hierzubleiben, wäre vernünftig gewesen. Doch ihr Herz zog sie zurück in ihre Heimat, dorthin, wo, wie sie es im Gespräch mit dieser Redaktion schilderte, alles ist, was sie liebt, allem voran ihr Mann Alexandr und ihre Eltern. Auch ihre Tochter Tereza und ihr Sohn Andrij wollten unbedingt zurück nach Kiew, zu ihrem Papa und zu ihren Freunden. Es ist das zweite Mal seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 gewesen, dass die Mutter mit ihren Kindern in Gerolzhofen die Zelte abbrach, um nach Kiew zurückzukehren.
Alle drei Stunden fällt der Strom aus
Diesen Schritt zurück in den Kriegszustand bereut die 40-Jährige nicht, sagt sie heute. Das Gespräch erfolgt per Videotelefonie. Sie sitzt in der Küche ihrer kleinen Mietwohnung in Kiew. Vorsichtshalber warnt sie gleich zu Beginn davor, dass das Gespräch plötzlich enden könnte, wenn der Strom im Haus ausfällt. Das passiere aktuell alle drei Stunden, für mehrere Stunden.
Trotz allem ist Nazarova in ihrer Heimatstadt glücklicher als in Gerolzhofen. Ihr Mann könne, obwohl er als Ingenieur kritische Versorgungsnetze am Laufen erhält, jederzeit einberufen werden. Die Zeit mit ihm ist für Nazarova unschätzbar kostbar. Ihre Kinder gehen seit Anfang September wieder zur Schule. Sie selbst unterrichtet als studierte Deutsch-Lehrerin an derselben Schule.
Wie sie mit der ständigen Gefahr durch Luftangriffe zurechtkomme? Die Luftabwehr sei heute besser als noch vor einem Jahr, sagt Nazarova. Und: "Man kann sich an fast alles gewöhnen." Auch daran, dass Anfang Juli das Hochhaus, in dem sie wohnen, von der massiven Druckwelle eines Einschlags getroffen wurde. Von zu Hause aus müssen sie fast 800 Meter zum nächsten Schutzraum rennen. Immerhin: Die Schule hat einen eigenen Schutzraum. "Die Kinder sind dort in Sicherheit."

Ständige Luftalarme stressen die Kinder
Für Vlada Nesterova waren die Bombardements ein entscheidender Grund, die Ukraine wieder zu verlassen. "Kinder sollten nicht in Schutzräumen unterrichtet werden und dort schlafen müssen", sagt sie mit Blick auf ihren elfjährigen Sohn Maxim. Die Kinder in Kiew seien auch dadurch sehr gestresst. Für den Winter erwartet sie, dass die Stromausfälle in Kiew zunehmen werden. Das prognostizierten selbst offizielle Nachrichtensender in der Ukraine. Ohne Strom bleiben auch die Heizungen kalt. Die ständigen Luftalarme, ein- bis viermal am Tag, rauben ihnen den Schlaf.
Von März 2022 bis September 2023 war Nesterova in Deutschland und lebte und arbeitete in Gerolzhofen. Als sie im Oktober 2023 nach Kiew zurückgeht, wo ihre Eltern leben, merkt sie: "Die Welt dort hat sich ganz verändert." Sie arbeitet als Deutsch-Lehrerin. Die umgerechnet 250 Euro, die sie im Monat verdient, reichen kaum fürs Überleben. Die Preise in Kiew, muss sie feststellen, sind heute ebenso hoch wie in Deutschland.
Was zur Sorge um die Sicherheit und zur prekären wirtschaftlichen Lage noch hinzukommt: Quasi alle ihre Freunde haben die Ukraine zwischenzeitlich verlassen. Dasselbe hat ihr Sohn feststellen müssen, als sie im Oktober 2023 wieder nach Kiew zurückgekommen sind. Ihre Strategie, mithilfe ihrer Arbeit und einer Fortbildung in Deutsch vom Kriegsalltag möglichst wenig mitzubekommen, funktioniert nicht. "Ich habe begonnen, vom Leben vor dem Krieg zu träumen", sagt die 49-Jährige. Da beschließt sie mit ihrem Sohn, wieder nach Gerolzhofen zurückzukehren. Dort kann Maxim in Frieden schlafen und zur Schule gehen.

Sie träumt von einem kleinen Haus
Nazarova dagegen träumt weiter von einem Leben in der Ukraine. "Wir würden gerne ein Häuschen kaufen, in einer kleinen Stadt", sagt sie. Doch der Krieg lässt dies als Illusion erscheinen. Was passiert, wenn Russland weitere Teile der Ukraine besetzt? Oder ihr Haus im Krieg zerstört würde? "Die Zukunft nicht planen zu können, das ist derzeit das Schlimmste für mich", sagt Nazarova.
Je nachdem, wie der Krieg verläuft, könnte ihr Leben sich in zwei Jahren deutlich verbessert haben – oder noch viel schlimmer sein als jetzt, sagt sie. Nur eines steht für sie fest: Unter russischer Besatzung würde sie auf keinen Fall in der Ukraine bleiben wollen. Das hat sie bereits vor ihrer Rückkehr im Frühjahr gesagt. In diesem Fall würde sie erneut fliehen, womöglich nach Gerolzhofen.
Dankbar für die erfahrene Hilfsbereitschaft
Dorthin würde sie gerne wieder reisen, allerdings freiwillig, etwa um liebgewonnene Menschen wiederzusehen. Ihre Erinnerungen an Gerolzhofen sind sehr gut. "Gerolzhofen ist ein sehr netter Ort", sagt Nazarova. Sie und ihre Kinder hätten Glück gehabt, dass sie dort leben durften, sagt sie mit Blick auf die erfahrene Hilfsbereitschaft.
Nesterova verfolgt in Deutschland keine Nachrichten, sagt sie. So hält sie den Krieg in ihrer Heimat auf Abstand. Um Neuigkeiten aus der Ukraine zu erfahren, telefoniert sie mit ihrer Mutter in Kiew. Um sich in Deutschland eine Zukunft aufzubauen, wünscht sich Nesterova vor allem Arbeit und eine Wohnung, in Gerolzhofen oder Schweinfurt.
Derzeit wohnt sie bei einer Familie in Gerolzhofen, bei der sie auch im Frühjahr 2022 untergekommen ist. Damals fand sie, die im Bereich Handel gelernt und jahrelang gearbeitet hat, recht schnell Arbeit, als Aushilfe in einem Supermarkt. Später arbeitete sie einen Monat in der Kinderbetreuung. Mit Kindern würde sie auch jetzt gerne wieder arbeiten, auch weil sie so am besten ihr Deutsch verbessern könnte. "Kinder sprechen immer", sagt sie.