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Gerolzhofen
Hin- und hergerissen zwischen Schutz und Sehnsucht: Warum eine Geflüchtete erneut in die Ukraine zurückgeht
Wie sehr Menschen unter der Flucht leiden, verdeutlicht der Fall von Iryna Nazarova. Bereits zum zweiten Mal verlässt die Mutter mit ihren Kindern Gerolzhofen.
'Mein Leben ist wie eine Schaukel': Die Ukrainerin Iryna Nazarova ist bereits zweimal mit ihren Kindern Tereza und Andrij vor dem Krieg geflüchtet. Jetzt ist sie erneut in die Heimat zurückgekehrt. Die Sehnsucht nach der Heimat hat über die Vernunft gesiegt. Das Bild entstand beim Sommerfest des Helferkreises.
Foto: Julia Rüther (Archivfoto) | "Mein Leben ist wie eine Schaukel": Die Ukrainerin Iryna Nazarova ist bereits zweimal mit ihren Kindern Tereza und Andrij vor dem Krieg geflüchtet. Jetzt ist sie erneut in die Heimat zurückgekehrt.
Stefan Pfister
 |  aktualisiert: 09.03.2024 02:42 Uhr

Die innere Zerrissenheit ist Iryna Nazarova anzumerken. Immer wieder muss sie nach Worten ringen, wenn sie von ihrem Heimatland spricht, von ihrem Mann und von den Eltern, die sie bereits zweimal zurücklassen musste. Obwohl sie exzellent Deutsch spricht, macht sie zwischendurch längere Pausen, denkt nach, sucht die passende Formulierung, und leidet sichtbar.

Im Gespräch ahnt man, welche schwierigen Entscheidungen die Mutter für sich und ihre Kinder treffen musste. Dann malt sie, mit klarer Stimme, aber den Tränen nahe, ein sprachliches Bild, das ihr derzeitiges Gefühlschaos zeigt: "Mein Leben ist wie eine Schaukel. Gerolzhofen ist für mich Vernunft – die Ukraine aber ist mein Herz, meine Seele."

Was ist wichtiger: Sicherheit oder das Leben leben?

Je länger der Krieg dauert, desto mehr schwingt die Gefühlsschaukel von Nazarova aus – zwischen dem sicheren Schutz in Deutschland und der Sehnsucht nach der geliebten, aber unsicheren Heimat, wo ihre Lieben ausharren. Unzählige Male stellte sie sich die Frage: "Was ist mir wichtiger: Sicherheit oder mein Leben zu leben?" Kürzlich traf sie dann eine Entscheidung: "Wir kehren wieder zurück nach Kiew!"

Seit Russland die Ukraine vor etwas mehr als zwei Jahren angegriffen hat, befinden sich die Bewohner des Landes im Ausnahmezustand. Sie müssen mit Not und Leid, Angst und Schrecken, Tod und Trauer zurechtkommen, ob zu Hause oder im Ausland. Viele sind geflüchtet, so wie auch die heute 40-Jährige zusammen mit ihren Kindern Teresa und Sohn Andrij. Ihr Mann durfte nicht mitkommen.

Deutsch-Sprachkurs mit Iryna Nazarova: Bei ihrem zweiten Aufenthalt in Gerolzhofen unterrichtete die Ukrainerin einige Wochen andere Geflüchtete im Geo-Treff des Helferkreises.
Foto: Stefan Pfister | Deutsch-Sprachkurs mit Iryna Nazarova: Bei ihrem zweiten Aufenthalt in Gerolzhofen unterrichtete die Ukrainerin einige Wochen andere Geflüchtete im Geo-Treff des Helferkreises.

Iryna Nazarova kam erstmals im März 2022 nach Unterfranken. Erst wohnte die studierte Deutsch-Lehrerin bei Bekannten in Wiesentheid, wo sie vor 25 Jahren als Austauschschülerin am dortigen Landschulheim-Gymnasium war, später dann in Gerolzhofen.

Ihre Kinder gingen hier zur Grundschule, wo sie die Willkommensgruppe unterrichtete. In der Hoffnung, dass der Krieg schnell endet und voller Sehnsucht nach der Heimat, wagte sie einige Zeit später, im September 2022, eine Rückkehr nach Kiew zu ihrem Mann. 

Seit zwei Jahren ein ständiger innerer Kampf

Doch die täglichen Drohnenangriffe im folgenden Mai ließen sie ihre Entscheidung überdenken. Obwohl es der Familie einigermaßen gut ging, zumindest für ukrainische Verhältnisse, mit Mietwohnung, Arbeit und geregeltem Schulunterricht, führte sie einen "ständigen inneren Kampf" mit sich.

"Mache ich es richtig, was ist besser für die Kinder, wie geht der Krieg weiter, wird es vielleicht noch schlimmer?", fragte sie sich immer und immer wieder. Es wundert nicht, dass sie davon zwischenzeitlich total erschöpft gewesen sei.

"Mein Leben ist wie eine Schaukel. Gerolzhofen ist für mich Vernunft - die Ukraine aber ist mein Herz, meine Seele."
Iryna Nazarova

Nach drei Monaten, im Juli 2023, packte sie erneut die Koffer. Es war eine gemeinsame Entscheidung in der Familie. "Ich hatte extreme Angst", erinnert sie sich. Groß war ihre Sorge um die Kinder, die während der fortwährenden Angriffe im Badezimmer übernachten mussten. Und sie fürchtete sich vor einem noch härteren Winter als im Vorjahr, in dem es die russischen Truppen besonders auf die Energieversorgung abgesehen hatten.

Beim zweiten Aufenthalt wollte sie ursprünglich ein Jahr in Gerolzhofen bleiben. "Das habe ich nicht geschafft", stellte sie kurz vor ihrer erneuten Abreise in die Ukraine ernüchtert fest. Am vergangenen Sonntag war es schließlich so weit: Der Kleinbus gen Osten fuhr los, mit der Familie Nazarova an Bord.

Vorfreude auf Mann, Eltern und die geliebte Heimat

Für sie bedeutet es allerdings kein Scheitern. Es überwiegt sogar die Erleichterung und, das mag für Menschen hierzulande seltsam klingen, eine gewisse Vorfreude. „Es ist kein echtes Leben hier. Alles, was ich liebe, ist dort“, so Iryna Nazarova.

Nach ihrer ersten Flucht aus der Ukraine 2022 durfte Iryna Nazarova die Kinder der Willkommensklasse an der Grundschule Gerolzhofen unterrichten. Beim zweiten Aufenthalt vermisste sie eine regelmäßige Aufgabe.
Foto: Michael Mößlein (Archivfoto) | Nach ihrer ersten Flucht aus der Ukraine 2022 durfte Iryna Nazarova die Kinder der Willkommensklasse an der Grundschule Gerolzhofen unterrichten. Beim zweiten Aufenthalt vermisste sie eine regelmäßige Aufgabe.

Keinesfalls will sie sich über mangelnde Unterstützung beklagen. Der Familie von Ansgar Willacker, dem Vorsitzenden des FC Gerolzhofen, wo die dreiköpfige Familie vorübergehend wohnen durfte, ist sie zu großem Dank verpflichtet, ebenso dem Helferkreis, unter anderem für die Hilfe bei der Wohnungssuche, sowie vielen weiteren Mitmenschen. "Ich kann Gerolzhofen nur herzlich Danke sagen. Sie haben so viel für uns und die Ukrainer gemacht. Man bekommt hier mehr als man erwarten darf", sagt Nazarova.

Doch trotz Unterstützung, Wohnung und Schulunterricht für die Kinder ist sie unglücklich geblieben. Besonders deshalb, weil sie dieses Mal keine regelmäßige Aufgabe hatte, im Gegensatz zum ersten Aufenthalt. "Eine Arbeit hätte mir gutgetan", glaubt sie. Monatelang hatte sie sich umgesehen, diesmal aber ohne Erfolg.

"Sie haben so viel für uns und die Ukrainer gemacht. Man bekommt hier mehr als man erwarten darf"
Iryna Nazarova

Zusätzlich war es für ihre Tochter Tereza und ihren Sohn Andrij schwer, die neue Sprache zu erlernen und Freundschaften zu schließen, obwohl sich viele in der Schule darum bemühten. Die Kinder, erzählt sie, hätten ihr Zuhause vermisst, ihren Vater, ihre Freunde. Schon vor Wochen habe Tereza immer wieder ihre Reisetasche gepackt. Es war ein weiteres und deutliches Zeichen für die Mutter.

Nur in einem Fall würde sie aus der Ukraine wegziehen

Zuletzt hatte sie noch den Deutsch-Sprachkurs für Geflüchtete beim Helferkreis gehalten. Ihre Entscheidung, wieder in die Ukraine zu gehen, konnte das jedoch nicht mehr ändern. Iryna Nazarova hinterlässt Spuren, das war bei ihrer Verabschiedung im Geo-Treff offensichtlich: Es gab viele herzliche Worte, Umarmungen, ein Geschenk.

Und was ist derzeit ihre größte Sorge? Sie muss nicht lange überlegen: "Die Angst, ein drittes Mal nach Deutschland kommen zu müssen." In Zukunft würde sie gerne ausschließlich zum Urlaub nach Gerolzhofen zurückkehren. Nicht zum Schutz.

Für Iryna Nazarova ist die Zeit in Gerolzhofen abgelaufen: Sie hat kürzlich die Entscheidung getroffen, in die Ukraine zurückzukehren. Vor ihrer Abfahrt hielt sie noch eine letzte Deutsch-Stunde für Geflüchtete im Geo-Treff.
Foto: Stefan Pfister | Für Iryna Nazarova ist die Zeit in Gerolzhofen abgelaufen: Sie hat kürzlich die Entscheidung getroffen, in die Ukraine zurückzukehren.

Nur wenn die Ukraine den Krieg verlieren sollte, will sie nicht mehr in ihrem Heimatland bleiben. "Dann gehe ich lieber ins Ausland, statt in einem Land zu leben, in dem es uns verboten wird, unsere Sprache zu sprechen und unsere Bücher zu lesen. In allen anderen besetzten Territorien hat es Russland so gemacht. Und so würde es auch bei uns passieren.“

Ohne eine Atempause einzulegen, folgt ihr wohl wichtigster Wunsch: "Ich hoffe wirklich, dass es nicht dazu kommt."

 
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